von KILIAN WEGNER
Am 5. Dezember 2017 hat der EuGH ein von der Fachwelt mit Spannung erwartetes Urteil in der Rechtssache „M.A.S. und M.B.“ (hier aus sogleich zu erläuternden Gründen als „Taricco II“ bezeichnet) getroffen, das das Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht zum unmittelbar anwendbaren Unionsrecht und damit die Kernfrage betrifft, wem in der Europäischen Union justizielle Letztentscheidungskompetenz zukommt. Die von einer diplomatisch-kooperativen Handreichung gegenüber den nationalen Verfassungsgerichten geprägte Entscheidung ist im Ergebnis zu begrüßen, gibt jedoch hinsichtlich ihrer Begründung prima facie Rätsel auf.
Ausgangslage
In seinem vieldiskutierten „Taricco“-Urteil vom 8. September 2015 war der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit italienischen Verjährungsvorschriften befasst, die nach Angaben des Vorlagegerichts dazu führten, dass bestimmte Fälle von Mehrwertsteuerbetrug durch großangelegte „Mehrwertsteuerkarusselle“ im Regelfall nicht strafrechtlich sanktioniert werden konnten, weil die jeweiligen Taten bereits absolut verjährt waren, bevor das jeweilige Strafverfahren zum Abschluss gebracht werden konnte. Der EuGH entschied (grob gesagt), dass eine solche Vorschrift gegen die den Mitgliedstaaten – unter anderem – durch Art. 325 I, II AEUV auferlegte Pflicht zur effektiven Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug verstößt und deshalb unionsrechtswidrig ist. Brisanz barg nun die Folgefrage, welche Konsequenz die Unionsrechtswidrigkeit der betroffenen Verjährungsvorschriften für bereits begangene und eigentlich schon verjährte oder bald verjährende Steuerstraftaten haben sollte.
Die darauf vom EuGH in „Taricco“ entwickelte Antwort kann als äußerst „robust“ bezeichnet werden: Da es sich bei Art. 325 I, II AEUV um eine unmittelbar anwendbare Primärrechtsnorm handle, die am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teilnehme, sei jede entgegenstehende nationale Bestimmung – also auch die im „Taricco“-Verfahren in der Kritik stehende italienische Regelung zur absoluten Straftatverjährung – unanwendbar. Auch das in Art. 49 I GRC enthaltende Gesetzlichkeitsprinzip begrenze die Vorrangwirkung des Unionsrechts in diesem Fall nicht, weil es nicht zu einer rückwirkenden Veränderung der einschlägigen materiell-strafrechtlichen Verhaltens- oder Sanktionsnorm führe, wenn eine Verjährungsvorschrift und damit eine prozessuale Regelung nach Tatbegehung verändert werde. Diese Auffassung stützt der EuGH durch einen Verweis auf die Rechtsprechung zu Art. 7 EMRK, in der der EGMR davon ausgeht, dass das dort verankerte Gesetzlichkeitsprinzip der Verlängerung einer noch laufenden (!) Verjährungsfrist nicht entgegensteht. Im Ergebnis seien die mitgliedstaatlichen Gerichte deshalb verpflichtet, unionsrechtswidrige Verjährungsvorschriften in laufenden Strafverfahren ad-hoc unangewendet zu lassen, ohne dabei abzuwarten, bis der Gesetzgeber das unionsrechtswidrige Verjährungsrecht durch ein unionsrechtskonformes Regelungsgefüge ersetzt.
Durch diesen Ansatz war ein Konflikt mit dem italienischen Verfassungsgerichtshof („Corte Costituzionale“) vorprogrammiert, der denn auch bald ein entsprechendes auf Basis der „Taricco“-Entscheidung geführtes italienisches Strafverfahren zu überprüfen hatten. Das Konfliktpotential wurzelte dabei darin, Verjährungsvorschriften nach italienischem Verständnis zum materiellen Strafrecht zählen und damit dem in der italienischen Verfassung verankerten Gesetzlichkeitsprinzip unterfallen. Daraus folgt nach dem Verständnis des Corte Costituzionale, dass eine strafrechtliche Verjährungsfrist im Tatzeitpunkt hinreichend gesetzlich bestimmt sein muss und nicht nach Tatbegehung rückwirkend verlängert werden kann. Eine aus dem Unionsrecht erwachsende Verpflichtung Italiens, eine geltende Regelung zur Begrenzung der Verjährung von bereits begangenen Steuerstraftaten rückwirkend außer Kraft zu setzen, würde damit gegen einen Kerngrundsatz des italienischen Verfassungsrechts verstoßen. Folgerichtig sah sich der Corte Costituzionale im Angesicht von „Taricco“ mit Forderungen konfrontiert, auf seine sog. „controlimiti“-Rechtsprechung zurückzugreifen, auf deren Grundlage sich der Gerichtshof – ähnlich das BVerfG im Rahmen seiner sog. Verfassungsidentitätskontrolle – vorbehält, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu durchbrechen, wenn anderenfalls die italienische Verfassungsidentität verletzt würde. Anstatt direkt auf diese verfassungsrechtliche „nuclear option“ zurückzugreifen, entschied sich das Gericht jedoch, die italienische Perspektive dem EuGH zunächst noch einmal in einem Vorabentscheidungsersuchen darzulegen und – höchstdiplomatisch – um „Klärung“ zu bitten.
Kurskorrektur – Entscheidung des EuGH in „Taricco II“
Auf diese Weise hat der EuGH die Chance erhalten, die rechtsstaatliche fragwürdige Pointe von „Taricco I“ ohne Gesichtsverlust zu korrigieren, und diese Chance – entgegen der Empfehlung des Generalanwalts Bot – aus meiner Sicht im Ergebnis klug genutzt. Zwar bleibt es nach Ansicht des EuGH dabei, dass strafverfolgungsvereitelnde Verjährungsvorschriften, wie sie in „Taricco I“ ins Visier des Art. 325 I, II AEUV geraten waren, unionsrechtswidrig seien. Jedoch zwinge Art. 325 I, II AEUV nationale Gerichte nicht dazu, solche unionsrechtswidrigen Verjährungsvorschriften in Bezug auf bereits begangene Straftaten außer Acht zu lassen, wenn ein solches Vorgehen aus Sicht des nationalen Gerichts zu einem Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip führen würde. Der EuGH lässt dem Corte Costituzionale damit deutlichen Spielraum, eine Anwendung der „controlimiti“-Prinzipien abzuwenden – die „Taricco-Bombe“ ist damit – zumindest auf den ersten Blick – entschärft.
Ein zweiter Blick weckt jedoch den Verdacht, dass sich Sprengstoff zwar nicht im Ergebnis, wohl aber in der Begründung von „Taricco II“ findet. Wie die ersten Reaktionen auf das Urteil gezeigt haben (z.B. von Philipp B. Donath, Marco Bassini und Oreste Pollicino, Dana Burchardt, Daniel Sarmiento sowie von Barbora Budinksa, Zuzana Vikarska und Massimo Fichera) lassen sich die unpräzisen Ausführungen, mit denen der EuGH sein Ergebnis in „Taricco II“ herleitet, nämlich äußerst unterschiedlich interpretieren.
Interpretationsmöglichkeit 1: Unionsrechtsinterne Abwägung zwischen Art. 325 I, II AEUV und Art. 49 I GRC
Der aus meiner Sicht begrüßenswerteste Ansatz, um das vom EuGH in „Taricco II“ gefundene Ergebnis zu begründen, würde aus meiner Sicht darin liegen, den Konflikt zwischen dem Interesse an einer effektiven Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug aus Art. 325 I, II AEUV einerseits und dem Gesetzlichkeitsprinzip andererseits insgesamt auf die Ebene des Unionsrechts zu heben. Dies wäre möglich, wenn der EuGH in „Taricco II“ von seiner minimalistischen Grundrechtsprüfung in „Taricco I“ abgerückt wäre und nunmehr entweder anerkennen würde, dass Art. 49 I GRC auch der rückwirkenden Änderung von Verjährungsvorschriften entgegensteht. Es könnte dann argumentiert werden, dass Art. 325 I, II AEUV im Lichte von Art. 49 I GRC so auszulegen ist, dass aus Art. 325 I, II AEUV keine Pflicht erwächst, Verjährungsvorschriften rückwirkend zu verlängern.
Wie Dana Burchardt jedoch dargelegt hat, ist es zweifelhaft, ob der EuGH den Art. 49 I GRC in „Taricco II“ tatsächlich in der von mir skizzierten Weise aufgewertet und in Abwägung zu Art. 325 I, II AEUV gebracht hat. Denn tatsächlich wird in der Entscheidungsbegründung nicht klar zwischen dem italienischen und dem unionsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip differenziert, so dass nicht erkennbar ist, an welcher Stelle das Gericht die unionrechtliche und an welcher Stelle die italienische Form des Gesetzlichkeitsprinzips anspricht und welche Differenz zwischen beiden Ebenen besteht. Wenn in Rn. 58 der Entscheidung betont wird, dass das Gesetzlichkeitsprinzips in der italienischen Rechtsordnung auch auf Verjährungsregeln anwendbar ist, deutet das im Umkehrschluss sogar eher daraufhin, dass es für das unionsrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip aus Sicht des EuGH gerade dabei bleiben soll, dass die rückwirkende Veränderung von Verjährungsvorschriften nicht erfasst wird.
Interpretationsmöglichkeit 2: Anerkennung nationaler Verfassungsidentitätsvorbehalte als Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts
Die von Dana Burchardt selbst vorgenommene Interpretation, wonach der EuGH mit „Taricco II“ letztlich die Verfassungsidentätsvorbehalte von nationalen Verfassungsgerichten wie dem Corte Costituzionale oder dem BVerfG anerkannt und damit in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung eine Ausnahme von Prinzip des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts geschaffen habe, lässt sich allerdings ebenfalls nur schwer mit der vorliegenden Entscheidungsbegründung in Einklang bringen. Es ist insbesondere nicht einsichtig, welchen (politischen?) Gewinn der EuGH daraus ziehen sollte, durch die Anerkennung einer Ausnahme vom Anwendungsvorrang kraft nationaler Verfassungsidentität die – mit Burchardt gesprochen – „verfassungsexzeptionalistische“ Büchse der Pandora zu öffnen, ohne die vom Corte Costituzionale oder anderen nationalen Verfassungsgerichten entwickelten Verfassungsidentitätskonzepte auch mit nur einem Wort in der Urteilsbegründung zu würdigen.
Interpretationsmöglichkeit 3: Kein Fall echter Kollision zwischen Unionsrecht und nationalem Recht
Einer Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts braucht es denn auch gar nicht, um das Ergebnis des EuGH in „Taricco II“ dogmatisch zu rekonstruieren. Vielmehr kann das Gericht auch so verstanden werden – und das scheint mir am Ende die stimmigste (und wohl auch von Daniel Sarmiento vorgenommene) Interpretation zu sein –, dass es den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der aus Art. 325 I, II AEUV erwachsenden Pflicht zur effektiven Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug einen Umsetzungsspielraum einräumt, der hinreichend groß ist, um darin das italienische Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips unterzubringen. Mit anderen Worten: Ein Mitgliedstaat, der unionsrechtskonforme Verjährungsregeln per Gesetzesreform einführt, dabei aber bereits begangene Taten noch nach altem, aus Unionsperspektive „ineffizienten“ Recht bewertet, genügt ausweislich von „Taricco II“ trotzdem insgesamt den Effizienzanforderungen des Art. 325 I, II AEUV. Aus dieser Perspektive wird der vielfach diskutierte Widerspruch zwischen der auf Anwendungsvorrang drängenden unionsrechtlichen Pönalisierungspflicht gem. Art. 325 I, II AEUV einerseits und dem italienischen Gesetzlichkeitsprinzip andererseits als bloße Schein-Kollision enttarnt, die sich auflösen lässt, ohne einerseits (wie bei Interpretationsmöglichkeit 2) das Dogma des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts einzuschränken oder andererseits (wie bei Interpretationsmöglichkeit 1) den Schutzgehalt des unionsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips auf das italienische Niveau zu heben.
Fazit
Mit „Taricco II“ hat der EuGH eine Kompromissentscheidung getroffen: Einerseits bleibt er zu Recht bei der Einschätzung, dass das in „Taricco I“ in den Fokus geratene italienische Steuerstrafrechtsregime den durch Art. 325 I, II AEUV zum Ausdruck gebrachten Effizienzansprüchen des Unionsrechts nicht genügte. Andererseits begnügt er sich – anders als noch in „Taricco I“ angedeutet – damit, dass dieser unionsrechtswidrige Zustand für die Zukunft durch den italienischen Gesetzgeber abgestellt wird, bereits begangene Steuerstraftaten aber noch nach dem alten Recht behandelt werden können. Dass der rechtsdogmatische Weg, auf dem der EuGH dieses Ergebnis erzielt hat, sich aus der Urteilsbegründung nicht eindeutig ergibt, ist aus rechtswissenschaftlicher Perspektive misslich, mag aber mit der politisch-diplomatischen Dimension des Falles zu tun haben. In jedem Fall lässt sich der Ausgang von „Taricco“ aus meiner Sicht aber dogmatisch rekonstruieren, ohne dabei die bestehenden Grundsätze über den Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Frage zu stellen. Am überzeugendsten erscheint mir dabei die Annahme, dass die verfassungsrechtliche Situation in Italien durch den von Art. 325 I, II AEUV eröffneten nationalen Gestaltungsspielraum in Bezug auf die Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug abgedeckt ist und in „Taricco“ folglich gar keine Kollisionslage zwischen Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht bestand. Im Ergebnis hat der EuGH die zur Kooperation ausgestreckte Hand des Corte Costituzionale angenommen, ohne dafür aus Sicht des Unionsrechts ein wirkliches „Opfer“ erbringen zu müssen. Dies sollte in Zeiten grassierenden anti-europäischen Ressentiments als Ausdruck politischen Geschicks und richterlichen Ausgleichs gewürdigt werden.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Vielen Dank für Deinen interessanten Beitrag zur Debatte um Taricco II. Da Du auf meinen Beitrag Bezug nimmst, hier ein Punkt zur Klarstellung: Anders als Du unter „Interpretationsvariante 2“ ausführst, argumentiert mein Kommentar nicht, dass es sich bei dem Urteil um die Anerkennung eines Verfassungsidentitätsvorbehalts handelt. Die Anwendung eines solchen Vorbehalts durch den italienischen Verfassungsgerichtshof sollte wohl gerade verhindert werden. Vielmehr bezieht sich mein Beitrag auf den Vorrangvorbehalt innerhalb der Melloni-Rechtsprechung, der m.E. durch Taricco II betroffen ist.
Ich habe deine Position in der Tat zu unpräzise beschrieben. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass wenn der EuGH in Taricco II die von dir beschriebene „constitutional law exception to the principle of primacy“ geschaffen hätte, dies aus meiner Sicht (also nicht nach deiner Darstellung) faktisch (also ohne dies so zu bezeichnen) einer Anerkennung nationaler Durchbrechungen des Vorrangs des Unionsrecht im Stile der deutschen „Verfassungsidentitätskontrolle“ gleichkäme. Denn die Voraussetzungen dieser „hidden exception to primacy“ würden dann ja wohl darin zu sehen sein, dass ein besonders gewichtiger nationaler Verfassungsrechtssatz mit vorrangigem Unionsrecht kollidiert. Das ist in der Sache derselbe, nur sprachlich variierte Maßstab, den z.B. das BVerfG anlegt, wenn es danach fragt, ob eine unionsrechtliche Norm die deutsche Verfassungsidentität berührt.
Sehr guter Beitrag, vielen Dank!
Die Deutungsoffenheit der EuGH-Argumentation ist sicherlich Absicht. Interpretation Nr. 2 liegt aber tatsächlich sehr fern: Die heilige Dreifaltigkeit tastet der EuGH nicht an. Nichts anderes sagt uns ja auch Melloni: Art. 53 GRC bringt keine Durchbrechung des Anwendungsvorrangs mit sich.