von CLEMENS KEIM*
Die USA sind international dafür bekannt, Freihandelsabkommen (Free Trade Agreements, FTAs) zu verhandeln, in denen sie ihre eigenen Standards z.B. hinsichtlich des Schutzes geistigen Eigentums in die FTA-Partnerstaaten exportieren. Auch wenn sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung bislang weitestgehend auf diese Abkommen fokussiert hat, stehen die EU den USA hierin in nichts nach. Frühere Abkommen verwiesen noch lediglich auf das Abkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums (Treaty on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS), neuere Abkommen enthalten dagegen seit 2006 umfassende Bestimmungen zum Schutz geistigen Eigentums, die wie auch bereits die Abkommen der USA über die Verpflichtungen des TRIPS hinausgehen. Der Wert dieser „TRIPS-plus“ Verpflichtungen ist nicht zu unterschätzen – sowohl für die europäische als auch für die Wirtschaft der FTA-Partnerstaaten, allerdings mit unterschiedlichen Implikationen. Die Europäische Union gilt als Netto-Exporteur von technischem Wissen und somit geistigem Eigentum. Während die Produktion abwandert, ist es gerade dieses technische Wissen, das der hiesigen Wirtschaft ihren Wettbewerbsvorteil sichert. Dieses Wissen zu schützen, ist daher eine erklärte Priorität der Europäischen Handelspolitik.
EU-Außenhandel zwischen Wohlstandswahrung und Entwicklungspolitik
Das TRIPS, ein Annex des Abkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO), etabliert internationale Minimalstandards zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum und ist für alle 162 WTO-Mitgliedstaaten verbindlich. So verpflichtet das TRIPS z.B. alle Vertragsstaaten in Art. 33 TRIPS dazu, Patente mindestens für 20 Jahre zu schützen. Diese Minimalstandards wurden jedoch bewusst mit „Schlupflöchern“ verbunden, sogenannten „flexibilities“, die den Staaten einen gewissen Spielraum in der Umsetzung ihrer Schutzverpflichtungen lassen. 2001 erlangte z.B. die Möglichkeit der Staaten Ruhm, in gesundheitlichen Notsituationen Zwangslizenzen für patentierte Medikamente auszugeben (vgl. Art. 31 TRIPS). Eine solche Zwangslizenz ermächtigt eine Drittpartei, das patentierte Medikament auch ohne Erlaubnis des Patentinhabers herzustellen – meist gegen Zahlung einer festgelegten Summe.
Die modernen FTAs bauen auf dem Erfolg dieses Abkommens auf und verbinden, wie auch die damaligen Uruguay-Verhandlungen, den Schutz geistigen Eigentums mit dem Abbau von Handelsschranken. Ihre TRIPS-plus Verpflichtungen schmälern jedoch die Schlupflöcher, die das TRIPS den Vertragsstaaten zuerkennt. Mit diesen Zugeständnissen „erkaufen“ sich Staaten den Zugang zu westlichen Märkten, obwohl die hieraus resultierenden Schutzstandards für die Rechte aus geistigem Eigentum ihrem Entwicklungsstand nicht angemessen sind.
Aktuell werden vor allem die Folgen des TTIP und des CETA debattiert. Die Diskussion um die Folgen dieser Handelspolitik für die Entwicklungsstaaten findet dagegen lediglich im Hintergrund und fern der Öffentlichkeit statt. Nach dem Motto „jeder ist sich selbst am Nächsten“ engagieren sich EU-Bürger gegen Chlorhühnchen, Hormonfleisch und Investorenschutz, nicht jedoch für die wesentlich gravierenderen Probleme der Entwicklungsstaaten auf Grund der FTAs, die sie unter anderem mit der EU schließen und die uns Europäern eine dominante Stellung in der internationalen Wirtschaft sichern sollen.
Neben der Sicherung dieser Stellung ist es auch erklärtes Ziel dieser Abkommen zwischen der EU und Entwicklungsstaaten, die Bedürfnisse der Partnerstaaten zu berücksichtigen, insbesondere sollen sie nachhaltiges Wachstum fördern. Der Annahme, es bestehe ein positiver Zusammenhang zwischen höherem Schutz geistigen Eigentums in Entwicklungsländern und der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Staaten, liegen jedoch keine belastbaren Daten zu Grunde.
Nehmen wir das Beispiel der Patentierung von Medikamenten. Die FTAs verpflichten die Entwicklungsstaaten u.a. zur Verlängerung der Schutzzeiten von Patenten im Falle von „unbilligen“ Verzögerungen im Marktzulassungsprozess neuer Medikamente. Der Marktzulassungsprozess ist allerdings so komplex, dass die Strukturen in vielen Entwicklungsstaaten grundsätzlich überfordert sind – immerhin muss im Zulassungsprozess die pharmazeutische Qualität, die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sowie ein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels beurteilt werden. Dadurch entstehen wiederum Verzögerungen, die den regelmäßig im Westen ansässigen Patenthaltern auf Grund der TRIPS-plus Verpflichtungen in den FTAs sodann auf die Schutzfrist „gutgeschrieben“ werden müssen. Außerdem haben die Staaten die Daten zu schützen, die zum Zwecke dieser Marktzulassung an die zuständigen Behörden übermittelt werden. Hierbei handelt es sich vor allem um Ergebnisse klinischer Studien, die äußerst aufwendig zu generieren sind. Bislang war es Generikaproduzenten möglich, sich bei ihrem Antrag auf Marktzulassung auf diese Daten zu berufen und lediglich die sogenannte „Bio-äquivalenz“[1] nachzuweisen. Es liegt auf der Hand, dass beide Verpflichtungen dazu führen, dass die Schutzzeiten für Originalpräparate verlängert werden. Dies wiederum verzögert den Zugang von Generika zum Medikamentenmarkt. Für die Patienten in diesen Staaten bedeutet das höhere Kosten für die Behandlung: Zum Beispiel kostet die Behandlung einer Form der Leukämie mit dem Originalpräparat Glivec® pro Patient und Monat rund 3125 EUR, während die Behandlung mit Generika diese Kosten auf 60 EUR senkt. Hätten die FTA-Partnerstaaten eigene Forschungskapazitäten, so könnten derartige Patentschutzstandards durchaus eine positive Entwicklung entfalten, weil sie den Wettbewerb ankurbeln. Vielen Entwicklungsstaaten mangelt es jedoch bereits an Kapazitäten für die Produktion von Medikamenten, geschweige denn für den Ausbau von Forschungskapazitäten. Selbst Indien als großes Schwellenland und „Apotheke der Welt“ baut nur langsam derartige Kapazitäten auf – die vorhandene Pharmaindustrie finanziert sich vorwiegend aus der Generikaproduktion. Da die hiesigen Pharmakonzerne über die Patente an den jeweiligen Medikamenten verfügen, können sie ihre Marktdominanz sogar noch weiter ausbauen und die Wettbewerbsfähigkeit entwicklungsstaatlicher Pharmaunternehmen weiter schwächen. Derartige Patentschutzklauseln in FTAs dienen also einzig dem Schutz hiesiger Unternehmen, nicht der Entwicklung der entwicklungsstaatlichen Wirtschaft.
Werden sie umgesetzt, werden somit die Interessen multinationaler Pharmakonzerne auf dem Rücken der Patienten in den meist ärmeren FTA-Vertragsstaaten geschützt. Werden sie dagegen nicht umgesetzt, so wird den Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, vor ein Investitionsschutztribunal zu ziehen. Diese Tribunale werden nicht ohne Grund auch im Zusammenhang mit TTIP und CETA kritisiert. Im Falle dieser Abkommen stehen sich allerdings mit Industrienationen und multinationalen Konzernen ebenbürtige Kontrahenten auf Augenhöhe gegenüber. Im Falle von multinationalen Konzernen und Entwicklungsstaaten ist dies nicht unbedingt anzunehmen.
Nord-Süd Freihandel im toten Winkel
Was bewirken Freihandelsabkommen der EU mit Entwicklungsstaaten also? Einerseits gewähren sie den Entwicklungsstaaten erleichterten Zugang zum Europäischen Markt, wodurch die Staaten sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Staaten und somit einen Schub für die eigene Wirtschaft erhoffen. Andererseits wird dieser Vorteil mit Zugeständnissen „erkauft“, die eine starke Belastung für diese Staaten bedeuten. Während die Vorteile jedoch in zukünftigen Liberalisierungsrunden – sei es multilateral in der WTO oder bilateral durch Abkommen zwischen den Industriestaaten und den Wettbewerbern der jeweiligen Entwicklungsstaaten – schmelzen werden, belasten die Verpflichtungen unter anderem zum Schutz geistigen Eigentums die Staaten und ihre Bevölkerung dauerhaft. Die erhoffte Chance zur wirtschaftlichen Entwicklung könnte sich daher als Ente herausstellen: Entgegen der Hoffnung wirtschaftlicher Annäherung könnte die Ungleichheit zwischen „erster“ und „dritter“ Welt sogar noch verschärft werden. Mehr noch, die bereits an Freihandelsabkommen zwischen Industriestaaten kritisierten Investitionsschutzklauseln entfalten umso problematischere Wirkungen, je schwächer die staatliche Streitpartei ist.
Auch In diesem Jahr, 2016, steht die Unterzeichnung weiterer Freihandelsabkommen an, z.B. mit der SADC sowie der ECOWAS Gruppe. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller Flüchtlingsströme sollte die Debatte um diese Freihandelsabkommen mindestens ebenso laut, wenn nicht sogar lauter geführt werden, wie diejenige um TTIP oder CETA.
* Der Autor promoviert bei Prof. Jasper Finke zu TRIPS-plus Verpflichtungen in FTAs
[1] „Bio-äquivalent“ sind die Generika dann, wenn sie denselben Wirkstoff in derselben Dosis enthalten, die gleichen Qualitätsstandards erfüllen und die gleiche Bioverfügbarkeit aufweisen. Die Bioverfügbarkeit gibt hierbei an, in welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß ein Wirkstoff vom Körper aufgenommen wird.