von EMMA BARTMANN und CHRISTIAN KISCZIO
Die Mitglieder der EU-Kommission äußern sich gerne öffentlich zu aktuellen politischen Themen – vorzugsweise auf Twitter/X. Im Vergleich zu der weit fortgeschrittenen und häufig geführten Debatte über die Äußerungsrechte staatlicher Funktionsträger in Deutschland, ist eine solche Auseinandersetzung auf unionaler Ebene jedoch nahezu inexistent. Dabei werfen solche Äußerungen auch hier interessante Fragen auf, gerade wenn es um die Einmischung in nationale – oder mit Blick auf die kommenden Europawahlen 2024 europäische – Wahlkämpfe geht. Dieser Beitrag untersucht aus diesem Anlass, inwiefern Äußerungsrechte der EU-Kommissar*innen im Unionsrecht geregelt sind.
Kontroverse Äußerungen von Mitgliedern der EU-Kommission
Beispiele kontroverser Äußerungen von Kommissionsmitgliedern gibt es inzwischen einige, etwa die Beteiligung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an einem kroatischen Wahlkampf-Werbespot im Juli 2020 oder die Verbreitung einer EVP-Veranstaltung über einen offiziellen Twitter-Account der Kommission im September 2023. Besonders kontrovers diskutiert wurde ein Vortrag der Kommissionspräsidentin vor Studierenden der Princeton University im September 2022. Auf die Frage einer Studentin, ob ein möglicher Wahlsieg des Rechtsbündnisses in Italien sie besorgen würde, antwortete von der Leyen: „Wenn sich die Dinge in eine schwierige Richtung entwickeln – ich habe von Ungarn und Polen gesprochen –, dann verfügen wir über Instrumente.“ Diese Äußerungen wurden von Beteiligten des italienischen Wahlkampfs als unerlaubte Einmischung kritisiert. Erst Anfang März erlaubte sich Kommissar Thierry Breton auf Twitter eine Spitze gegen seine Chefin, woraufhin die Kommission intern noch einmal sehr deutlich auf die einzuhaltenden Regeln für öffentliche Äußerungen hinwies. Doch inwiefern sind solche Äußerungen von Kommissionsmitgliedern überhaupt im Unionsrecht geregelt?
Äußerungsrechte und Verhaltenspflichten der Kommissionsmitglieder
Im Primärrecht enthalten zunächst Art. 17 Abs. 3 EUV und Art. 245 AEUV konkrete Verpflichtungen für die Kommissionsmitglieder. Dazu zählen beispielsweise ihre unbedingte Unabhängigkeit (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 2 EUV) und die Pflicht, bei ihrer Tätigkeit ehrenhaft und zurückhaltend zu sein (Art. 245 Abs. 2 S. 2 AEUV). In Bezug auf öffentliche Äußerungen gibt es jedoch keine ausdrücklichen Vorgaben.
Aufschluss geben kann jedoch der die primärrechtlichen Regelungen ergänzende Verhaltenskodex für die Mitglieder der Europäischen Kommission vom 31. Januar 2018 (im Folgenden: Verhaltenskodex). Dieser enthält u.a. Vorschriften zu Interessenskonflikten und zur verpflichtenden Nutzung des Transparenzregisters der EU. Rechtlich handelt es sich bei dem Verhaltenskodex um einen Beschluss nach Art. 288 Abs. 1, 4 AEUV. Eine Rechtsgrundlage für einen Kommissionsbeschluss über einen Verhaltenskodex ist in den Verträgen nicht explizit vorgesehen. Auch der Verhaltenskodex selbst enthält keinen Verweis auf eine solche. Eine Zuständigkeit der Kommission wird jedoch aus deren Kompetenz aus Art. 245 Abs. 2 S. 3 AEUV folgen, bei Verstoß einzelner Kommissionsmitglieder gegen ihre Pflichten aus Art. 245 Abs. 1, 2 AEUV beim Gerichtshof einen Sanktionsantrag zu stellen.
Bezüglich öffentlicher Äußerungen von Kommissionsmitgliedern sind insbesondere Art. 9 und 10 des Verhaltenskodex relevant. Diese regeln die Mitwirkung von Kommissionsmitgliedern in der nationalen und europäischen Politik. Zwar dürfen Kommissionsmitglieder gem. Art. 9 Abs. 3 Verhaltenskodex als Mitglieder nationaler Parteien an nationalen Wahlkämpfen und nationaler Politik mitwirken, sie müssen jedoch die Kommissionspräsidentin von jeglicher Mitwirkung und ihrer individuellen Rolle unterrichten, wobei diese im Einzelfall entscheiden kann, ob die geplanten Aktivitäten im Wahlkampf mit der Wahrnehmung der jeweiligen Aufgaben des Kommissionsmitglieds vereinbar sind (Art. 9 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, S. 2, 3). Außerhalb der Mitwirkung an einem nationalen Wahlkampf sieht Art. 9 Abs. 3 jedoch für öffentliche Äußerungen vor, dass sich die Kommissionsmitglieder „jeglicher öffentlicher Äußerung und jeglichen Auftritts im Namen einer politischen Partei […], der sie angehören“ enthalten. Eine Mitwirkung als Kandidat*in an einem Wahlkampf erfordert nach Art. 9 Abs. 2 Verhaltenskodex einen „Wahlkampfurlaub“, in dem die Kommissionsmitglieder ihr Kommissionsamt ruhen lassen müssen und keine Ressourcen des Amtes in Anspruch nehmen dürfen. In einer vergleichbaren Regelung bestimmt Art. 10 des Kodex, dass die Kommissionsmitglieder zwar auch während ihrer Amtszeit als Kandidat*innen an Wahlkämpfen auf europäischer Ebene teilnehmen dürfen, dann aber ebenfalls nach Absatz 5 die Ressourcen des Amtes nicht beanspruchen dürfen und sich auch hier jeglicher öffentlicher Äußerung im Namen einer europäischen politischen Partei, der sie angehören, enthalten (Art. 10 Abs. 6 S. 1 Verhaltenskodex). Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 6 bestimmen aber zugleich (nur deklaratorisch), dass dadurch das Recht zur persönlichen Meinungsäußerung der Kommissionsmitglieder nicht eingeschränkt wird.
Verstoßen Mitglieder der EU-Kommission gegen ihre Pflichten aus Art. 17 Abs. 3 EUV bzw. Art. 245 Abs. 1 und 2 AEUV, kann der Gerichtshof gem. Art. 245 Abs. 2 S. 3 AEUV auf Antrag des Rates oder der Kommission die jeweiligen Mitglieder ihres Amtes entheben oder ihnen ihre „Ruhegehaltsansprüche oder andere an ihrer Stelle gewährte Vergünstigungen aberkennen“. Das gleiche gilt bei Verstößen gegen den Verhaltenskodex (vgl. Art. 13 Abs. 3 Verhaltenskodex), wobei mildere Verstößen zudem auch auf Vorschlag der Kommission durch die Kommissionspräsidentin gerügt werden können.
Rechtsschutz
Fraglich ist auch, welche darüber hinausgehenden individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen entsprechende Aussagen von Kommissionsmitgliedern bestehen. Da eine Klage europarechtlich nur gegen die Kommission als Unionsorgan zulässig wäre, stellt sich die Frage, inwiefern einzelne Stellungnahmen der Kommission insgesamt zugerechnet werden können. Zudem schließt Art. 263 Abs. 1 AEUV „Empfehlungen und Stellungnahmen“ explizit als Klagegegenstand einer Nichtigkeitsklage aus. Das ist folgerichtig, da die Nichtigerklärung einer nicht rechtsverbindlichen Äußerung ein Widerspruch ist. Einen feststellenden Rechtsschutz kennen die Verträge nicht. Wie der Beitrag zeigt, besteht hier also ein Rechtsschutzdefizit. Gerade wegen der zunehmenden Bedeutung direkter Kommunikation zwischen Regierung und Bevölkerung und der besonderen Bedeutung von Kommunikationsvorgängen für die Demokratie wäre eine gerichtliche Missbrauchskontrolle für besonders schwerwiegende Fälle wünschenswert.
Fazit
Bezüglich der Äußerungsrechte der Mitglieder der EU-Kommission bleiben einige Fragen offen. So fehlen etwa Vorgaben dazu, wann eine Äußerung überhaupt als „hoheitliches“ Handeln in der Funktion als Kommissionsmitglied zu klassifizieren ist. Zudem stellt sich etwa die Frage, wie etwa eine Rüge erfolgen sollte, wenn die relevanten Äußerungen von der Kommissionspräsidentin selber getroffen würden. Mit dem Verhaltenskodex und den primärrechtlichen Vorgaben der Art. 17 Abs. 3 EUV und Art. 245 AEUV bestehen jedoch immerhin kodifizierte Verhaltensvorgaben für die EU-Kommissar*innen, die auch ein differenziertes Sanktionsregime zulassen. Insbesondere aus Art. 9 und 10 des Verhaltenskodex folgen eindeutige Vorgaben für die Teilnahme von Kommissionsmitgliedern an nationalen und europäischen Wahlkämpfen, sowie auch ein explizites Verbot öffentlicher Äußerungen zugunsten einer Partei außerhalb des Wahlkampfes. Wenngleich selten beleuchtet, ist das unionale Rechtsregime zur Regelung hoheitlicher Äußerungen also durchaus existent, weist aber auch noch Defizite auf.
Zitiervorschlag: Bartmann, Emma/Kisczio, Christian, “Dann verfügen wir über Instrumente…”: Äußerungsbefugnisse von Mitgliedern der EU-Kommission, JuWissBlog Nr. 20/2024 v. 18.03.2024, https://www.juwiss.de/20-2024/.
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