Karlsruhe stärkt die Rechte kleiner Parteien bei Wahlen zum Europaparlament

von NIELS PETERSEN

Petersen121127Wie erwartet hat das Bundesverfassungsgericht in seinem gestrigen Urteil die in § 2 VII des Europawahlgesetzes vorgesehene 3%-Sperrklausel für Europawahlen für verfassungswidrig erklärt (Urt. v. 26. Februar 2014, 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a.). Die kritischen Kommentare aus der Tagespresse ließen nicht lange auf sich warten. Heribert Prantl bezeichnete es in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung als „Katastrophe für die parlamentarische Demokratie in Europa“, Nico Fried schrieb von einem „Urteil gegen Europa“. In der FAZ argumentierte Günther Nonnenmacher, dass das Bundesverfassungsgericht auf ein Terrain begeben habe, das dem Gesetzgeber vorbehalten sein solle.

Sperrklauseln sind ein doppelschneidiges Schwert. Auf der einen Seite sind sie oft notwendige Instrumente, um einer Zersplitterung des Parlaments entgegenzuwirken und damit dessen Legislativ- und Kreationsfunktion sicherzustellen. Auf der anderen Seite errichten Sperrklauseln aber auch erhebliche Wettbewerbshürden für kleine Parteien. Sie sind ein Instrument des Konkurrenzschutzes, mit dem die im Parlament vertretenen Parteien den Aufstieg kleiner Parteien erheblich erschweren können. Das Problem ist dabei nicht so sehr, dass, wie das Verfassungsgericht ausführt, die Stimmen einiger Wähler einen geringeren Erfolgswert haben (vgl. Rn. 47). Das Problem ist vielmehr, dass Wähler die Befürchtung, ihre Stimme könne möglicherweise keinen Einfluss haben, davon abhalten kann, in Wahlen für kleinere Parteien zu stimmen. Stattdessen wählen sie einer der etablierten Parteien, was wiederum deren Vormachtstellung untermauert.

Sperrklauseln sind damit weder per se gut oder schlecht. Sie wirken wie Medizin, die ein bestimmtes Übel bekämpft, aber nicht ohne Nebenwirkungen auskommt. Wird diese in Überdosis verabreicht oder einem gesunden Patienten eingeflößt, ist sie eher schädlich als nützlich. Für die Beurteilung einer Sperrklausel kommt es damit auf den Zustand des Patienten an. Insofern argumentiert das Verfassungsgericht zutreffend, dass die Frage der Zulässigkeit von Sperrklauseln „nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden“ könne (Rn. 54). Sie hänge vielmehr von der Frage ab, wie wahrscheinlich die jeweilige Funktionsstörung durch eine Zersplitterung des Parlaments sei.

Damit verlangt Karlsruhe vom Gesetzgeber eine empirische Prognose. Bei solchen Prognoseentscheidungen gesteht das Gericht dem Parlament in der Regel eine Einschätzungsprärogative zu. Eine solche wird insbesondere von Peter Müller in seinem Sondervotum angemahnt. Die Gerichtsmehrheit zieht dem gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum in diesem Fall jedoch zu recht enge Grenzen. Sie argumentiert zutreffend, dass das Parlament bei Regelungen, die den politischen Wettbewerb betreffen, „in eigener Sache tätig“ werde und somit einer „strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“ bedürfe (Rn. 59).

Die rein abstrakte Behauptung, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments gefährdet sei, reiche jedenfalls zur Rechtfertigung der Sperrklausel nicht aus (Rn. 61). Vielmehr hätte das Parlament eine konkrete Gefährdung darlegen müssen. Eine solche konnte das Verfassungsgericht jedoch nicht erkennen (Rn. 77-82). Bisher gebe es eine gute Kooperation zwischen den großen Fraktionen, die sich in den bisherigen Legislaturperioden immer auf stabile Mehrheiten stützen konnten (Rn. 78). Weiterhin seien Sperrklauseln auf nationaler Ebene nur bedingt geeignet, einer Zersplitterung des Europäischen Parlaments entgegenzuwirken. Es könne passieren, dass eine europäische Partei nur in einigen Staaten an der Sperrklausel scheitere, während sie in anderen ins Parlament komme (Rn. 80). Das Gericht wies schließlich darauf hin, dass nicht ausgeschlossen sei, dass sich die Situation ändere. Allerdings sei dem Deutschen Bundestag die Möglichkeit nicht genommen, eine Sperrklausel zu erlassen, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Funktionsstörung ergäben (Rn. 62-63).

Die Kritik der Tagespresse an dem Urteil ist eindeutig. Das Bundesverfassungsgericht habe ein Signal gegen Europa gesetzt und das Europäische Parlament implizit als Parlament zweiter Klasse abqualifiziert. Es ist nach dieser Lesart ein Arzt, der seinem Patienten eine essentielle Medizin vorenthält und damit eine schwere Krankheit in Kauf nimmt.

Das ist jedoch nicht die einzige mögliche Interpretation des Urteils. Man kann es vielmehr im Gegenteil als Zeichen sehen, dass das Bundesverfassungsgericht das Europäische Parlament gesundheitlich als stärker einschätzt, als oftmals angenommen wird. Der Sitzanteil der großen Fraktionen ist über die letzten beiden Jahrzehnte relativ stabil. Zudem weist das Verfassungsgericht selbst darauf hin, dass es im Europäischen Parlament eine starke Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fraktionen gebe (Rn. 78) und oft eine flexible Mehrheitsbildung praktiziert werde (Rn. 79).

Dieser Interpretation der Praxis des Europaparlaments zufolge geht es den Europaparlamentariern in erster Linie um sachorientierte Lösungen statt um parteipolitische Grabenkämpfe. Das muss kein Zeichen von Schwäche sein, sondern kann vielmehr eine in der heutigen Politiklandschaft bereits verloren geglaubte Stärke darstellen. Sollte die Zersplitterung des Europäischen Parlaments dagegen tatsächlich zu einem ernsthaften Problem werden, dürfte die Lösung wohl kaum auf nationalstaatlicher Ebene liegen. Vielmehr bedürfte es eines europäischen Heilmittels für ein europäisches Problem.

BVerfG, Europaparlament, Europawahlgesetz, Niels Petersen, politische Parteien, Sperrklausel, Wahlrecht
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Christoph Smets
    27. Februar 2014 09:54

    Vielen Dank für den ausgewogenen Artikel, Niels. Ich denke auch, dass die Kritik mehr von einer – mangels Erfahrung mit einer „sperrklausellosen Zeit“ – unbewussten Angst vor „ungehemmten“ Wahlen herrührt, genauer aus der Angst, rechte oder EU-kritische Stimmen könnten nun vermehrt gewählt werden (für letzere: honi soit…).
    Dabei hat man sich schon so sehr an die Sperrklausel gewöhnt, dass man nicht ihr Vorhandensein, sondern ihr Fehlen als demokratisch problematisch wahrnimmt, das Regel-Ausnahme-Verständnis hat sich bereits umgekehrt.
    Obwohl es sich um Gemeindevertretungen handelte, sollte in diesem Zusammenhang auch auf das bereits sechs Jahre alte Urteil des BVerfG zur 5%-Sperrklausel in Schleswig-Holstein erinnert werden, auch an die Bemerkungen zu rechten Parteien. Es ist also nicht so, als würde das BVerfG hier einen grundlegenden Rechtsprechungswandel vollziehen.

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