Die Hochschulen stehen in Anbetracht der Corona-Krise vor der Herausforderung, Forschung und Lehre in Zeiten des „social distancing“ weiterhin zu ermöglichen. Dies birgt die Chance, der Digitalisierung rechtswissenschaftlicher Forschung und Lehre einen wesentlichen Impuls zu geben.
Die politischen Reaktionen auf den Corona-Virus fallen immer drastischer aus. Mittlerweile stehen auch in Deutschland Ausgangssperren zur Debatte. Auch die Hochschulen reagieren und verlegen den Vorlesungsbeginn des Sommersemesters nach hinten. Immer mehr Bibliotheken beschließen, den Publikumsverkehr einzuschränken oder gänzlich auszusetzen. Der angeordnete Verzicht auf Sozialkontakte führt zu einer Verlagerungsbewegung ins Digitale. Nicht nur Schulen und Kultureinrichtungen verlagern ihre Angebote, auch für Forschung und Lehre werden die Möglichkeiten einer „Substitution im Digitalen“ intensiv diskutiert.
I. Lehre
Lehrveranstaltungen sollen vielerorts – vorerst jedenfalls zu Beginn des Sommersemesters 2020 – digital angeboten werden. Berichten über eine laufende Studie des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft nach wird die Corona-Krise zwar als Chance für die Digitalisierung der Lehre gesehen. So halten ein Viertel der Lehrenden eine Umstellung auf digitale Lehre auch kurzfristig für möglich; weniger als 30 % der Befragten sehen die Technik als größte Herausforderung. Weit mehr als die Hälfte der Befragten sieht jedoch die Akzeptanz digitaler Lehrformate durch die Lehrenden kritisch, auch weil es an Schulungen für die Lehrkräfte fehle. Eine wichtige Aufgabe für die Hochschulen wird es daher sein, alle Dozierenden auf dem Weg der Digitalisierung abzuholen und etwa mittels Videotutorials die Einrichtung von Online-Vorlesungen leicht zugänglich zu erklären.
Die fehlende Akzeptanz für digitale Angebote unter den Lehrenden bietet aber auch auf einer theoretischen Ebene Anlass, sich über das Verhältnis von analoger und digitaler Lehre Gedanken zu machen. Die Aufzeichnung von Vorlesungen, Anwendungskursen und Übungen weckt die Sorge der Dozierenden, künftig entbehrlich zu sein. Zugleich besteht die Befürchtung, gewachsene Campus-Strukturen könnten im Zuge der Digitalisierung verloren gehen und zu neuen Ungleichheiten unter den Studierenden führen, weil nicht allen Studierenden die gleichen Zugriffsmöglichkeiten auf digitale Inhalte zur Verfügung stünden.
Dass die Digitalisierung auch die klassischen Formen des Lehrens verändern wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Lernzeit und Lernort werden entkoppelt; zugleich bedingt die Digitalisierung einen verstärkten Wettbewerb unter Lernangeboten (Zwickel, JA 2018, 881 (887)). Schon heute erfordert erfolgreiche Lehre kein generelles räumliches Zusammenkommen von Dozierenden und Studierenden mehr. Auch Rechtswissenschaft kann im Fernstudium studiert werden. Die Corona-Krise wird die schon längst vorhandenen technischen Möglichkeiten, Vorlesungen in Echtzeit per Stream zu halten oder sogar aufzuzeichnen, in der Fläche befördern und zu deren Nutzung auch in Nach-Corona-Zeiten beitragen. Damit erübrigt sich Präsenzlehre jedoch nicht, weil der sozialen Interaktion am Ort des Geschehens für den Lernerfolg durchaus Bedeutung zuzumessen ist (Zwickel, JA 2018, 881 (885)). Auch Fernstudiengänge verzichten nicht vollständig auf Präsenzveranstaltungen. Reinen Videoaufzeichnungen fehlt diese für das Lernen wichtige Interaktion mit den Dozierenden. Vielmehr werden Formen integrierten Lernens künftig an Bedeutung gewinnen: Vorlesungen sowohl als Präsenzveranstaltung, zugleich aber auch als Stream anzubieten, bringt die große Chance mit sich, mit der eigenen Lehre einen weit größeren Interessentenkreis zu erreichen und die Lehre für diejenigen zu flexibilisieren, die aus berechtigten Gründen an Präsenzveranstaltungen nicht teilnehmen können. Die Aufzeichnung von Videos ermöglicht eine Abschichtung von stets identischen Inhalten zugunsten einer mehr an aktuellen Entwicklungen ausgerichteten Präsenzlehre.
Um Gleichberechtigung beim digitalen Lernen zu ermöglichen, sollten auch wir Jurist*innen zudem verstärkt über Open Educational Resources nachdenken. Digital frei zugängliche Lehrmaterialien werden in Corona-Zeiten stark an Bedeutung gewinnen, weil ein Großteil juristischer Lehrbuchliteratur bisher nicht digitalisiert wurde oder jedenfalls von den Bibliotheken nicht im digitalen Format lizenziert abrufbar ist. Auch für Lehrvideos bietet sich eine offene Lizenzierung an, damit das klassische Urheberrecht der Nachnutzung digitaler Lehrmaterialien nicht im Wege steht. Offen lizenzierte Videos können in Zeiten von Corona einfach in die eigene digitale Lehre integriert werden.
Unklar ist bis auf Weiteres, wie sich die Durchführung von Prüfungen in Zeiten von Corona gestalten soll und inwieweit die Digitalisierung hier einen Beitrag leisten kann. Dementsprechend werden Prüfungen aktuell auf Nach-Corona-Zeiten verschoben. Mit einem elektronischen Examen, wie es immer öfter in Erwägung gezogen wird, wäre es auch nicht getan, weil die Prüfungen zudem dezentral geschrieben werden müssten. Wie aber Täuschungsversuche bei Online-Klausuren, die aus dem Homeoffice geschrieben werden, verhindert werden sollen, ist unklar.
II. Forschung
Schwierig gestaltet sich auch die Digitalisierung der Forschung, soweit diese auf universitäre Infrastrukturen angewiesen ist. Während in anderen Disziplinen die Schließung von Laboren einen „Shutdown der Forschung“ bedingen, ist rechtswissenschaftliche Forschung insbesondere durch Bibliotheksschließungen beeinträchtigt, weil eine Vielzahl an rechtswissenschaftlicher Forschungsliteratur nicht digitalisiert zur Verfügung steht. Und auch da, wo Inhalte bereits digitalisiert vorliegen, ist ein universitätsseitiger Zugriff nur dann möglich, wenn dieser auch seitens der Universitätsbibliotheken lizenziert wurde. Lizenzierte Zugänge sind zudem teilweise für den Fernzugriff aus dem Homeoffice gesperrt; eine Öffnung zugunsten der Studierenden ist in dieser besonderen Situation dringend nötig. Sonst verschwinden digitale Inhalte hinter Bezahlschranken. In Anbetracht der für Forschungsliteratur aufgerufenen Preise ist es eher fernliegend, dass die Privatbibliotheken der Wissenschaftler*innen nunmehr umfassend aufgestockt werden. Ein guter Anlass, um über das Thema Open Access nachzudenken. Der Begriff steht für den freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur und anderen Materialien im Internet. In der Rechtswissenschaft wird zwar über Open Access diskutiert, ein Rückgriff auf diese Form der Publikation findet bisher jedoch kaum statt. Dies rächt sich in Zeiten wie diesen, wenn der Zugriff auf Monographien, Sammelbände, Kommentare und Zeitschriftenaufsätze entweder aufgrund geschlossener Bibliotheken oder wegen digitaler Bezahlschranken versperrt ist.
Auch das juristische Tagungswesen liegt vorerst auf Eis. Online-Tagungen sind bisher nicht verbreitet, werden aber auch in Anbetracht des Klimawandels an Bedeutung zunehmen. Während das Streamen der Vorträge technisch kein Problem darstellt (s. bereits die Ausführungen zur Lehre), müssen hier Wege gefunden werden, wie auch der auf Tagungen wichtige persönliche Austausch zwischen den Teilnehmer*innen ermöglicht werden kann.
III. Fazit
Die Corona-Krise birgt die Chance, die Potentiale der Digitalisierung für Forschung und Lehre greifbar zu machen und zugleich Gelegenheit, sich einmal intensiver mit den Möglichkeiten digitaler Forschung und Lehre auseinanderzusetzen. Dabei sollten die mit der Digitalisierung einhergehenden Potentiale einer Öffnung der (Rechts-)Wissenschaft im Sinne von „Open Science“ unbedingt mitbedacht werden, um niemanden in der digitalen Welt abzuhängen.
Redaktionelle Anmerkung: Der Autor Nikolas Eisentraut hat zuletzt auf der 60. Assistententagung in Trier einen Vortrag zum Thema „Die Digitalisierung von Forschung und Lehre – Auf dem Weg in eine ‚öffentliche‘ Rechtswissenschaft?“ gehalten, der in Kürze auch als Schriftfassung im Tagungsband erscheint.
Zitiervorschlag: Nikolas Eisentraut, Corona als Chance für die Digitalisierung rechtswissenschaftlicher Forschung und Lehre, JuWissBlog Nr. 30/2020 v. 20.3.2020, https://www.juwiss.de/30-2020/
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Vielen Dank für den gelungenen Aufruf zur mehr open source Veröffentlichungen. Leider stellen sich die Verlage z.T. quer (und fürchten wohl um ihr Monopol). Meine Anfrage an drei renommierte Verlage ergab nur Absagen hinsichtlich einer zeitlich befristeten „Leihe“ digitaler Medien – traurig; zumal ältere Veröffentlichungen gar nicht digitalisiert sind.
Vielleicht ist es Zeit, dass AutorInnen ihrem Verlag deutlich machen, dass ihr Veröffentlichungsrecht nicht weiter der Monopolisierung von Wissen dienen darf!
Herzlichen Dank für die positive Rückmeldung!
Ein kurzes Update: Die Verlage reagieren nunmehr teilweise auf die Corona-Krise. Nachdem Juris und Beck-Online die Heimzugänge auch für Studierende geöffnet haben, hat zuletzt Duncker&Humblodt das Programm „First Aid Access“ aufgelegt, das einen kostenlosen Online-Zugang zu Literatur im konkreten Bedarfsfalle eröffnen soll. Daneben verhandeln die jeweiligen Universitätsbibliotheken teilweise auch eigenständige Zugangsregelungen für Universitätsangehörige während der Corona-Krise aus (für die FU Berlin: https://www.jura.fu-berlin.de/bibliothek/Allgemeine_Informationen/AktuellesBib/fernzugangdatenbanken.html ). Das so ein Zugang auch für Lehrbücher eröffnet würde, ist mir aber nicht bekannt.
Abgesehen von diesen krisenbedingten Reaktionen hoffe ich genau wie du, dass Corona zu einem grundsätzlichen Umdenken in Hinblick auf die Zugänglichkeit von Forschungs- und Ausbildungsliteratur führt und den Themen Open Access und Open Educational Resources künftig auch in der Rechtswissenschaft ein größerer Stellenwert eingeräumt wird. Dabei sind alle am Publikationsprozess beteiligten Parteien gefragt!