von CHRISTIAN ERNST
Wenn sich Claudia Falke in diesen Tagen auf den Heimweg macht, kann sie dies mit einem beruhigten Gefühl tun. In der letzten Woche hat das OVG Hamburg eine lang erwartete Entscheidung zum Gefahrengebiet verkündet. Was sich in der mündlichen Verhandlung angedeutet hatte, bestätigte sich nun: Die landesrechtliche Regelung des § 4 Abs. 2 PolDVG, die Grundlage für das Ausrufen von sog. Gefahrengebieten und dortige polizeilichen Maßnahmen sein soll, ist verfassungswidrig. Vorgelegt an das Verfassungsgericht wird allerdings nicht. Und sofort stellt sich die Frage, wie das OVG trotzdem zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit kommen kann.
Klägerin in diesem Verfahren war Claudia Falke, die sich am Vorabend des 1. Mai 2011 in einem Gefahrengebiet im Hamburger Schanzenviertel bewegte, das anlässlich befürchteter Ausschreitungen ausgewiesen worden war. § 4 Abs. 2 PolDVG erlaubt der Polizei in einem Gefahrengebiet, anlassunabhängig die Identität von Personen festzustellen und mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen. Genau dies verlangten die Polizisten, auf die Claudia Falke traf. Zudem kontrollierten sie den Inhalt ihres Rucksacks, erteilten ihr ein Aufenthaltsverbot, wonach sie das Schanzenviertel verlassen sollte, und nahmen sie schließlich für mehrere Stunden in Gewahrsam, als sie dem nicht nachkam ― denn die Wohnung von Claudia Falke lag ebenfalls im Schanzenviertel.
Ungewohnte Rolle für das OVG
Anlass des Verfahrens war damit nicht das Gefahrengebiet aus dem Januar 2014, das bundesweit durch die Presse ging und für skurrile Szenen sorgte, sondern ein früheres. Die Geschehnisse im Januar 2014 hatten aber zwischenzeitlich die öffentliche Meinung für das Thema Gefahrengebiete außerordentlich stark sensibilisiert. Das OVG nahm deshalb in der Art eines obiter dictum zur grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit der Regelung zu Gefahrengebieten Stellung. Seine Auffassung der Verfassungswidrigkeit begründete das Gericht umfangreich, „weil dies dem Wunsch beider Verfahrensbeteiligter entspricht“. Vorlegen musste es gleichwohl nicht, weil die konkreten Maßnahmen gegenüber Claudia Falke schon für sich gesehen rechtswidrig waren. Die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Grundlage war nicht entscheidungserheblich.
Um eine dauerhafte gesellschaftliche Befriedigung zu erreichen, dürfte dieses Vorgehen äußerst sinnvoll sein, auch wenn sich der ungewöhnliche Eindruck nicht gänzlich abschütteln lässt. Angesichts des Inhalts und des Umfangs der Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung von mehr als drei Vierteln der Entscheidungsgründe handelt es sich jedenfalls nicht um bloß „nebenbei Gesagtes“.
Auf eine solche gerichtliche Äußerung hatte im Übrigen auch schon der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen gebaut, weil dieser eine Anpassung des Instruments anlassunabhängiger Kontrollbefugnisse anhand der dazu ergehenden Rechtsprechung in Aussicht stellt. Dahinter steht eine politische Praxis, die im Vergleich zu der immer wiederkehrenden Kritik, dass sich die Verfassungsrechtsprechung mit ihren Entscheidungen zu sehr in den Bereich des Politischen hinüberlehne, nur wenig Beachtung findet: Das Abwarten auf gerichtliche Entscheidungen, die dann eins zu eins übernommen werden, als Teil des politischen Agierens. Dabei ist es oftmals gerade die breite politische Diskussion im Parlament, die umstrittenen Vorhaben wie der anlassunabhängigen Personenkontrolle die Legitimation verleiht, die ihnen gut zu Gesicht steht.
Polizei verweigert sich den Konsequenzen
Der Hamburger Polizeipräsident hat in den Tagen nach der Verkündung eine schnelle Reaktion versprochen, auch im Hinblick auf aktuell bestehende Gefahrengebiete. Nun seien „erforderliche Anpassungsbedarfe […] schnell und mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen“. In der Polizeiführung, in der auch zwei Gewerkschaften um Einfluss rangeln, wird zwar oftmals eine ganz eigene politische Agenda verfolgt. Für die Frage, welche Konsequenzen die Auffassung des OVG auf bestehende und zukünftige Gefahrengebiete hat, gestaltet sich die Antwort jedoch äußerst simpel, dies als „Prüfung“ zu bezeichnen ist genau genommen schon zu hoch gegriffen: Gefahrengebiete und alle damit im Zusammenhang stehenden Einzelmaßnahmen sind rechtswidrig.
Der Polizeipräsident hat hingegen zugleich deutlich gemacht, dass er durch das Urteil keine Veranlassung sieht, bestehende Gefahrengebiete aufzuheben. Die Beamten sollen darin weiter wie bisher vorgehen. Formell kann er zwar darauf verweisen, dass das OVG zur rechtskräftigen Feststellung der Verfassungswidrigkeit nicht berechtigt ist und auch gegen die nicht zugelassene Revision könnte noch Beschwerde erhoben werden. Allerdings haben die Verfahrensbeteiligten selbst das Gericht um eine Klärung der Rechtslage gebeten. Sind sie zugleich über Art. 20 Abs. 3 GG Recht und Gesetz verpflichtet, zeugt es von einer bedenklichen Schieflage des Rechtsverständnisses, wenn sie die Anerkennung der erbetenen Rechtsauffassung verweigern, weil diese das eigene Handeln der Rechtswidrigkeit überführt und es deshalb dem eigenen Interesse zuwiderläuft.
Überzeugende Ausführungen des Gerichts zur Verfassungswidrigkeit
Die Leitlinien der inhaltlichen Begründung des OVG sind schnell zusammengefasst: Die Regelung des § 4 Abs. 2 PolDVG ist zu unbestimmt, weil die Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff ― vermittelt durch das Merkmal der „konkreten Lageerkenntnisse“ ― durch die Polizei selbst und nicht durch den Gesetzgeber bestimmt sind. Die damit in Bezug genommenen subjektiven Einschätzungen und Erfahrungen der polizeilichen Entscheidungsträger stehen tatsächlich einer effektiven gerichtlichen Kontrolle entgegen. Auch fehlt es an Regelungen zum zeitlichen Umfang sowie Zuständigkeit und Verfahren. Schließlich greift die Regelung auch unangemessen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein, weil individuelle Kontrollmaßnahmen eine erhebliche stigmatisierende Wirkung und damit auch eine erhebliche Intensität aufweisen. Diese Überlegungen sind allesamt überzeugend und zutreffend und es gäbe sogar noch weitere Ansätze, um die Verfassungswidrigkeit zu begründen.
Deutliche Worte für die bisherige polizeiliche Praxis
Beachtung verdienen die Ausführungen zur Geeignetheit, die vom Gericht im Ergebnis bejaht wird, weil unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Spielraums die Maßnahme erst dann ungeeignet ist, wenn sie objektiv oder evident untauglich ist. Und hiervon sei „zumindest nicht schlechthin für jeden denkbaren Gebietsausweisungsanlass und jede denkbare Kontrollsituation auszugehen […]“. Sieht sich das Gericht dazu genötigt, darauf hinzuweisen, dass Situationen vorstellbar sind, in denen das Instrument nicht gänzlich untauglich ist, legt das auch ein bemerkenswertes Zeugnis über die tatsächliche polizeiliche Praxis ab.
Das Gericht bemängelt weiter, dass der Ausgleich, den die gesetzliche Regelung zwischen geschützten Rechtsgütern und betroffenen Grundrechten versucht, gänzlich ohne Eingriffsschwelle und persönlichen Zurechnungszusammenhang auskommt. In der Praxis legt die Polizei anhand bestimmter Merkmale bislang immer „Zielgruppen“ von Personen fest, die dann verstärkt kontrolliert werden sollen. Claudia Falke fiel zum Beispiel nach Ansicht der Polizisten in die damalige Zielgruppe, die Personen erfasste, die „augenscheinlich dem linken Spektrum zuzuordnen“ waren.
Schwierigkeiten einer verfassungskonformen Regelung
Wollte man eine gesetzliche Neuregelung wagen, müssten solche grundrechtswesentlichen Fragen vom Gesetzgeber selbst entschieden werden. Unklar ist aber, ob sich Voraussetzungen wie eine Eingriffsschwelle und persönliche Zurechnungszusammenhänge überhaupt mit einer anlasslosen Vorfeldmaßnahme vereinbaren lassen. Ob also auf abstrakter gesetzlicher Ebene solche besonderen materiellen Voraussetzungen nicht einem anlassunabhängigen Instrument grundsätzlich widersprechen, weil dieses seiner Natur nach eben gerade ohne besonderen Anlass eingesetzt werden soll. Das bloße gesetzliche Erfordernis, Zielgruppen festzulegen, dürfte jedenfalls nicht ausreichen, weil auch dann nach wie vor alleine die Polizei über die Eingriffsvoraussetzungen entscheidet.
Eine besondere Herausforderung deutet sich bei der – entscheidungserheblichen – Bewertung der konkreten Maßnahmen gegenüber Claudia Falke an. Diese waren ermessensfehlerhaft, weil sie aufgrund der Zielgruppenbildung gleichheitswidrig waren. Das Gericht lässt offen, ob aufgrund des Verweises auf das „linke Spektrum“ schon Art. 3 Abs. 3 GG betroffen ist, zumindest ist aber der allgemeine Gleichheitssatz verletzt. Tatsächlich lässt sich nicht ausschließen, dass zukünftig immer öfter Korrelationen zwischen besonderen persönlichen Merkmalen, auch solchen des Art. 3 Abs. 3 GG, und spezifischen Verhaltensweisen entdeckt werden. Dies wird insbesondere eine Konsequenz von Big Data sein. Notwendig wird deshalb eine grundsätzliche Diskussion darüber sein, wie man solche tatsächliche Korrelationen und Gleichheitsrechte in Einklang bringen kann. Für anlassunabhängige Kontrollen durch die Polizei jedenfalls dürften alleine verhaltensbedingte Faktoren zulässig sein, nicht aber Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG oder ineffektive Merkmale wie Aussehen und Kleidungsstil.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Interessant an der OVG-Entscheidung ist, daß der Ausspruch zur Verfassungswidrigkeit ein obiter dictum ist, das 20 der 27 Begründungsseiten einnimmt. Man kann sich fragen, ob es wirklich Aufgabe des OVG-Senats ist, solch immense Zeit und Energie zu stecken (zu Lasten aller Rechtssuchender) in eine nicht entscheidungserhebliche Frage, und dies zum Zwecke der Steuerung des politischen Gestaltungswillens.
siehe auch Ernst, Anlassunabhängige Personenkontrollen und Gefahrengebiete, in: NVwZ 2014, S. 633-637