Ordentliche Gerichte in außerordentlichen Räumen: Sondergerichtssäle als Gefahr für die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen

von PAUL NICKLAS

Bei Verfahren mit großem öffentlichem Interesse geraten Gerichte bisweilen an ihre Kapazitätsgrenzen: Die Gerichtssäle sind nicht groß genug, um das erwartete Publikum unterzubringen. So finden aktuell wiederholt Verfahren in eigens eingerichteten Sondergerichtssälen statt. Die Bilder dieser Notlösungen prägen die Berichterstattung und damit die öffentliche Wahrnehmung. Gerade bei politisch bedeutsamen Verfahren gefährdet das die Akzeptanz der Entscheidung. Gerichte sollten stattdessen die Möglichkeit der Tonübertragung in einen zusätzlichen Presseraum nach § 169 I 3 GVG nutzen.

Die Einweg-Gerichtssäle von Münster und Frankfurt

Für die Berufungsverhandlung über die Einstufung der AfD als Verdachtsfall ließ das OVG Nordrhein-Westfalen im März 2024 kurzerhand die Eingangshalle zum Gerichtssaal umfunktionieren. Als die AfD-Prozessvertreter mit hunderten Anträgen den Auftakt um vier Stunden verzögerten, mag sich so manche*r der bis zu 180 Zuschauer*innen zu den drei Meter hohen Gestalten im „Saal“ umgedreht haben. Die „Zwei Menschen“ von Ung-Pil Byen kauern regungslos am Boden, als würden die gesammelten 15.000 Seiten Akten auf ihnen lasten. Vielfach griffen Presseberichte in Wort und Bild die Skulpturen als unfreiwilliges Bühnenbild des Verfahrens auf.

Ein ganz anderer Eindruck bietet sich aktuell am OLG Frankfurt „Außenstelle Sossenheim“. Die Verhandlung gegen Heinrich Prinz Reuß und acht weitere Angeklagte findet in einer unscheinbaren grauen Leichtbauhalle mit ebenso grauer Inneneinrichtung statt. Diese wurde eigens für den Prozess errichtet und wird danach wieder demontiert. Im Inneren findet sich ein Gerichtssaal für 110 Zuschauer*innen und ein Presse-Arbeitsraum mit gleich zwei Kapselkaffeemaschinen. Auf Kunst am Bau oder ein Wappen hinter der Richterbank wurde hingegen verzichtet.

Schon inhaltlich haben die beiden Prozesse Überschneidungen, sie betreffen im Kern das Infragestellen der staatlichen Ordnung. Sie eint jedoch auch, dass die Verhandlung in Sondergerichtssälen stattfindet bzw. stattfand. Die Gerichte begründen dies mit dem fehlenden Platzangebot in den regulären Sälen. Dabei liefern solche Einweg-Gerichtssäle unfreiwillig ein Bild von Notlösungen, als würden die betreffenden Verfahren die Justiz an ihre Grenzen bringen.

Die gesetzlichen Richter*innen in Ausnahmegebäuden

Rechtliche Vorgaben für Sondergerichtssäle gibt es kaum. Gerichte in Ausnahmegebäuden sind keine Ausnahmegerichte gem. Art. 101 I 1 GG. Nach dem Bundesverfassungsgericht sind Ausnahmegerichte „nur solche Gerichte, die in Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit besonders gebildet und zur Entscheidung einzelner konkreter oder individuell bestimmter Fälle berufen sind.“ Es handelt sich um eine Frage der Gerichtsorganisation, nicht der Räumlichkeiten.

Der Ort der Verhandlung ist damit verfassungsrechtlich nicht normiert. Die gesetzlichen Richter*innen nach Art. 101 I 2 GG sitzen, wo sie wollen. So können Gerichte jedenfalls innerhalb des jeweiligen OLG-Bezirkes auch in anderen Städten verhandeln. Das LG Duisburg verhandelte im Loveparade-Verfahren in der Messehalle im benachbarten Düsseldorf. Es handelt sich bei Sondergerichtssälen nicht um Ortstermine, sondern Teile oder Außenstellen der Gerichtsgebäude. Rein praktisch liegt die Grenze wohl in der Bereitschaft der Gerichtsverwaltung, die Räume auszustatten und zu sichern. Diese ist jedenfalls dann gegeben, wenn sich Richter*innen und Gerichtsverwaltung über das besonders große Öffentlichkeitsinteresse einig sind.

Verfahrensöffentlichkeit als Balanceakt

Die verfassungsrechtlich gebotene Öffentlichkeit nach § 169 Abs. 1 GVG ist gewahrt, sofern durch einen rechtzeitigen Aushang über den Ort informiert wird. Zur Rolle der Öffentlichkeit im Prozess stellt das Bundesverfassungsgericht in unverkennbarem Duktus fest: „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt.“ Jedoch wird gerade bei Verfahren mit Bezug zur wehrhaften Demokratie deutlich, wie delikat dieser Unterschied ist. Die Rezeption eines Verfahrens als Schauprozess (für die Öffentlichkeit) oder Geheimprozess (unter Ausschluss der Öffentlichkeit) untergräbt die Akzeptanz einer Entscheidung gleichermaßen. Dieser Balanceakt der öffentlichen Wahrnehmung muss den Gerichten gelingen.

Umso verwunderlicher, dass Gerichte in außergewöhnlichen Verfahren, die besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen, bereit sind, die bewährte Kulisse zu verlassen. Der Sondergerichtssaal vermittelt das unglückliche Bild, das Gericht würde ein Verfahren aus der Masse der Verfahren herausheben. Dem Vorwurf, das Urteil sei aus politischen Erwägungen oder durch öffentlichen Druck zustande gekommen, wird schon vor der eigentlichen Verhandlung das erste Argument geliefert. Die Akzeptanz der Entscheidung leidet unter der Verhandlung in einem Sondergerichtssaal. Das ist umso fataler, wenn das Verfahren gerade der Bestätigung der staatlichen Ordnung dient.

Die Symbolkraft von Sondergerichtssälen

Die Kulisse ist zentraler Teil der öffentlichen Wahrnehmung gerichtlicher Verfahren. Die „ritualisierte Präsenz“ im Gerichtsprozess bestehend aus Bildern und Abläufen richtet sich an Beteiligte und Öffentlichkeit zugleich. Nicht zufällig stammen die Roben der Bundesverfassungsrichter*innen aus dem Entwurf von Kostümbildner*innen. Die dramatische Architektur der Gerichtsgebäude des frühen 20. Jahrhunderts ist ebenso symbolisch wie die büroähnliche Sachlichkeit und Transparenz moderner Justizbauten, wie etwa Bundesverfassungsgericht und Bundesarbeitsgericht sie auf ihren Webseiten selbst beschreiben. Jedoch treten die Richter*innen eben nicht als Gestalter dieser Symbolik auf, sondern als Teil einer bestehenden Gesamtinszenierung. Die Empfindlichkeit dieser Inszenierung wurde zuletzt deutlich, als das neue Wahlrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts vorab online gefunden wurde. Dass die Entscheidung nicht zunächst regulär verkündet wurde, war zentraler Bestandteil der medialen Berichterstattung.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie sehr Sondergerichtssäle im Speziellen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit prägen. Die Stammheim-Prozesse werden bis heute nicht nach der RAF, sondern nach der eigens gebauten Mehrzweckhalle benannt. Noch beim Abriss 2023 kritisierten ehemalige Verteidiger die stigmatisierende Wirkung des Sonderbaus. Mittlerweile gibt es in Stammheim ein neues reguläres Sitzungssaalgebäude in dem gegen den „militärischen Arm“ der Prinz-Reuß-Gruppe verhandelt wird. Dieses Verfahren solle gerade kein „Schauprozess in einer Turnhalle“ werden, erklärt der Präsident des OLG Stuttgart und deutet damit selbst die gefährliche Symbolkraft des ehemaligen Sondergerichtssaals an.

Der Presseraum nach § 169 I 3 GVG als pragmatische Lösung

Bereits vor Jahren hat das Bundesverfassungsgericht das Problem erkannt und pragmatisch gelöst: Verhandlungen mit großem Öffentlichkeitsinteresse werden per Ton in einen separaten Presseraum übertragen. Der Gesetzgeber hat diese Möglichkeit 2018 für alle anderen Gerichten in § 169 I 3 GVG (i.V.m. § 55 VwGO für den Verwaltungsrechtsweg) eingeführt. Gerichte sind damit bei begrenztem Platzangebot nicht gezwungen, kritikwürdige Priorisierungsentscheidungen zu treffen oder Sondergerichtssäle zu nutzen.

Leider wird die Vorschrift soweit ersichtlich nur vereinzelt im Strafjustizzentrum München (hier und hier) und regelmäßiger am BGH (u.a. hier) genutzt. Kritik an § 169 I 3 GVG liegt auf der Hand, zu Recht wird eine Videoübertragung gefordert und auch die Zulassung der allgemeinen Öffentlichkeit sollte weiter diskutiert werden. Doch die Norm bietet erhebliche Vorteile. Konkret ist nur die (weiterhin vorhandene) Öffentlichkeit im Gerichtssaal Prozessöffentlichkeit. Die Vorgänge im separaten Presseraum können den Prozess nicht gefährden, das Gericht muss sie nicht von der Richterbank aus im Blick haben. Stattdessen sorgt das Gerichtspräsidium für die Einhaltung der Verhaltensregeln. Während 40-45 Justizbeschäftigte die Halle in Frankfurt-Sossenheim sichern, wird der Presseraum im Justizzentrum München von zwei Justizbeschäftigten überwacht. In der öffentlichen Wahrnehmung der Prozesse spielen Presseräume keine Rolle. Aus diesen Gründen sind sie auch in ihrer aktuellen Form gegenüber Sondergerichtssälen klar vorzugswürdig.

Fazit: Aufwand und Risiko mit begrenztem Nutzen

Sondergerichtssäle sind nicht nur sehr aufwändig, sie gefährden die Akzeptanz von Urteilen. Damit liegt auf der Hand, dass Gerichte § 169 I 3 GVG auch in den unteren Instanzen anwenden sollten. Ob die in Sondergerichtssälen mit viel Aufwand ermöglichten Plätze tatsächlich gebraucht werden, bleibt ohnehin ungewiss. Das OVG Nordrhein-Westfalen verhandelte jedenfalls ab dem vierten Verhandlungstag wieder in einem regulären Saal.

 

Zitiervorschlag: Nicklas, Paul, Ordentliche Gerichte in außerordentlichen Räumen: Sondergerichtssäle als Gefahr für die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen , JuWissBlog Nr. 57/2024 v. 27.08.2024, https://www.juwiss.de/57-2024/.

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Gerichtssaal, Gesetzlicher Richter, Öffentlichkeit, Paul Nicklas, Prozessberichterstattung, Sondergerichtssäle
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