Der Wille zur Demokratie und die Gewalt der Macht

von FELIX PETERSEN

felixpetersen_juwissfotoDas Erwachen der türkischen Demokratie?

Seit Ende Mai protestieren in verschiedenen türkischen Städten immer wieder Bürger gegen die bevormundende Politik der konservativen AKP-Regierung und den unverhältnismäßigen Umgang der Sicherheitskräfte mit Demonstranten. Die Forderungen nach stärkerer partizipativer Politik, bürgerlicher Mitsprache bei öffentlichen Entscheidungen und dem Schutz der Bürgerrechte sind Ausdruck eines Willens zur Demokratie. Aber was ist eigentlich demokratisch an diesen Protesten?

Grundsätzlich soll demokratischer Protest sich nicht durch die Beteiligung einer zahlenmäßigen Mehrheit auf den Straßen qualifizieren, sondern durch die Art und Weise, Öffentlichkeit herzustellen. In der Türkei ist zunächst die Heterogenität der Bewegung interessant. Durch die Proteste interagieren verschiedene gesellschaftliche Gruppen: etablierte Akteure (z.B. Gewerkschaften, Parteien wie die CHP), aber auch lose oder gar nicht organisierte Gruppen: z.B. Umweltschützer, Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle, Studenten, Journalisten, Kurden, Feministinnen, Homosexuelle, oder Fußballfans. Alle haben unterschiedliche Ziele und Forderungen, aber alle Gruppen eint die Überzeugung, dass seit dem Regierungsantritt der AKP 2002 die Türkei als eine Gesellschaft konstruiert wird, die nicht der erfahrbaren sozialen Wirklichkeit entspricht.

Hervorzuheben ist zudem die Pluralität der Protestformen sowie die Kreativität der Protestierenden. Die Menschen protestieren laut: sie skandieren Parolen und machen Krach mit Töpfen; und die Menschen protestieren leise: der Künstler Erdem Gündüz (duran adam) hat in der Nacht vom 17. auf den 18. Juni mit einem stummen Protest begonnen und bewegungslos auf dem Taksim-Platz stehend auf das Atatürk-Konterfei am Kulturzentrum geschaut; diesem Beispiel sind andere Protestierende gefolgt.

Die Gewalt der Macht

Das Erhabene der Protestierenden wird allerdings durch die Brutalität der Staatsmacht gebrochen. Es sind wiederholt Bilder der Gewalt um die Welt gegangen, von Gasgranaten und Gummigeschossen entstellte blutüberströmte Gesichter und willkürlich agierende Sicherheitskräfte. Amnesty International (AI) vermutet, dass Inhaftierte ggf. gefoltert werden und der Internationale Journalistenverband (IFJ) kritisiert die Maßregelung der Medien. Gegen die Demonstranten wird, so berichtet beispielsweise die ZEIT, auf Grundlage der umstrittenen Terrorgesetzgebung ermittelt.

Die Reaktion des politischen Establishments auf die Proteste zeigt vor allem, dass derartige Formen des öffentlichen Dissenses, die eigentlich für eine Gesellschaft Impulse des Wandels darstellen können, das politische System der Türkei nicht erreichen. Beziehungsweise sind die Mandatsträger und ausführenden Bürokraten, zumindest in diesem Fall massiven gesellschaftlichen Protests (es wurde in 77 von 81 Provinzen protestiert), in der Hauptsache damit beschäftigt, den Staat – und eben nicht die Bürgerinnen und Bürger – zu schützen. Darum ist das Umgehen der politischen Machthaber ein Zeichen autoritärer Herrschaft. Insbesondere dies sollten Kritiker hervorheben.

Ganz gleich, ob es sich um eine gesellschaftliche Mehrheit handelt, die in der Türkei ihre Nichtübereinstimmung ausdrückt, kann der türkische Staat keine Legitimität beanspruchen, wenn er von seinem Gewaltmonopol unverhältnismäßig Gebrauch macht. Sowohl der Rechtsstaat wie auch der demokratische Staat, so argumentieren politische Philosophie und Rechtsphilosophie, stellen den Schutz und die freie Entfaltung des Individuums in den Mittelpunkt. Liberale Theorien betonen insbesondere die negativen Schutzrechte, republikanische heben die positiven Gestaltungsrechte hervor. In modernen Demokratien, so folgert beispielsweise Jürgen Habermas in „Faktizität und Geltung“, sind beide Komplexe idealerweise integriert.

In der Türkei scheint der Staat an erster Stelle zu stehen. Der Schutz der Individuen und gewaltloser Umgang der Staatsgewalt mit Protest sind augenscheinlich weniger wichtig. Stattdessen wird der Rechtsstaat instrumentalisiert, insbesondere die Klassifizierung der Protestierenden als Terroristen ist hier ein anschauliches und folgenschweres Beispiel: rechtlich ist vor allem problematisch, dass im Umgang mit der demokratischen Öffentlichkeit Bürger- und Angeklagtenrechte radikal beschnitten werden; der Staat also willkürlich und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Durchsetzung einer bestimmten Gesellschaftskonstruktion aufrechterhält.

Für das Repräsentativsystem der Türkei sind insbesondere die Aussagen Erdoğans zu seiner Amtsfunktion und -legitimation problematisch. Er antwortete auf die Forderungen mit der Nonchalance eines Sonnenkönigs: da er von einer Mehrheit durch Wahlen legitimiert sei, könne er entscheiden, ohne die Gesellschaft jedes Mal um Autorisierung bitten zu müssen. Zudem verunglimpfte er die Protestierenden als Gesindel und Randalierer, drohte zunächst mit der Mobilisierung seiner Unterstützer und ließ diese später in Bussen zu Gegendemonstrationen ankarren. Hier erklärte er sein hartes Vorgehen als Amtspflicht; und er rief dazu auf, den Protest zum Schweigen zu bringen. Obschon die Regierung parlamentarisch durch eine Mehrheit von ungefähr 25 Mio. Wahlberechtigten legitimiert ist, führt die harte Hand des Premierministers geradewegs in eine nun auch repressive Tyrannei der Mehrheit.

Eine erstarkte demokratische Öffentlichkeit

Eigentlich hatte Erdoğan eine historische Chance, er hätte den Schritt vollziehen können, der ihm den ersehnten Platz in den Geschichtsbüchern gesichert hätte: die Türkei nach Europa zu führen. Er hat die Friedensverhandlung mit der PKK weit vorangebracht, die Wirtschaft boomt und die Proteste haben ihm die Möglichkeit gegeben, sein Versprechen einzulösen, der Premierminister aller Türken zu sein. Nun zeigt er, dass er der Premierminister ist, den Kritiker an die Wand gemalt haben: ein autoritärer, machthungriger, populistischer Hegemon. Der Premierminister der AKP und ihrer Unterstützer, nicht der der Türkei.

Der Erfolg der Proteste sollte allerdings nicht nur an konkreten Veränderungen wie dem Rücktritt Erdoğans, einer kommunal und partizipatorisch organisierten Bebauung des Gezi-Parks oder politischen Neuwahlen gemessen werden. Jenseits institutioneller, personeller oder rechtsstaatlicher Veränderungen hat sich die Gesellschaft schon vor und vor allem mit den Protesten gewandelt. Sie hat das politische System und den bürokratischen Staatsapparat überholt und hinter sich gelassen. Denn mit den Protesten hat die türkische Gesellschaft gezeigt, dass die antagonistisch strukturierte Politik – der Kampf um Hegemonie zwischen säkularen und religiösen Gruppen – eine von Eliten aufrechterhaltene Konstruktion darstellt, die von der Gesellschaft nicht getragen wird.

Verkürzt kann man argumentieren, dass seit Gründung der türkischen Republik die Politik hauptsächlich als Machtkampf um Staatsinstitutionen begriffen werden kann. Die sich durchsetzenden Gruppen instrumentalisierten den Staatsapparat meist, um ihre Vorstellung der Türkei zu realisieren. Natürlich versuchen auch jetzt etablierte Akteure, die Proteste für sich zu nutzen: die CHP würde das Ruder gern wieder übernehmen, was allerdings eine Fortsetzung der problematischen Polarisierung türkischer Politik bedeuten würde. Die Pluralität der Bewegung lässt allerdings hoffen, dass einseitige Vereinnahmungsversuche scheitern werden.

Auch das Beispiel Türkei verstärkt die Vermutung, dass repräsentative Institutionen und Rechtsstaaten heute vermehrt mit dem Problem konfrontiert sind, dass allein responsives Umgehen mit partizipativen Angeboten der Öffentlichkeit ihnen Legitimität jenseits der Wahlurne garantiert. Unterschiedlichste Proteste (Arabischer Frühling, Occupy, Stuttgart21, London Riots, Proteste im Iran, etc.) haben unlängst gezeigt, dass entscheidend ist, ob politische Systeme funktional und motivational in der Lage sind, die Öffentlichkeit in die gesellschaftliche Gestaltung einzubeziehen. In der Türkei ist das politische System alles andere als responsiv. Trotzdem hat sich die Öffentlichkeit neu formiert, neue Gruppen haben sich politisiert und die politische Bühne hat sich in diesem Zuge auch pluralisiert. Auch wenn dies nur ein Anfang ist, bleibt festzuhalten: Ungeachtet der erfahrbaren Gewalt der Macht hat sich in den Sommermonaten in der Türkei der Wille zur Demokratie auf den Straßen manifestiert.

Demokratie, Felix Petersen, Legitimität, Öffentlichkeit, Partizipation, Protest, Türkei
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Christoph Smets
    11. Juli 2013 09:53

    Vielen Dank für diesen klugen Beitrag. Trotzdem bin ich gleich am Anfang gestolpert und zwar über diesen, mit normativer Apodiktik vorgetragenen Satz: „Grundsätzlich soll demokratischer Protest sich nicht durch die Beteiligung einer zahlenmäßigen Mehrheit auf den Straßen qualifizieren, sondern durch die Art und Weise, Öffentlichkeit herzustellen.“
    Woher stammt dieser Befehl? Warum SOLL Massenprotest nicht demokratisch sein? Was ist undemokratisch an riesigen Menschenmengen, die gegen die aktuellen Herrscher demonstrieren? Und warum ist dies keine – um den zweiten Teilsatz aufzugreifen – demokratische „Art und Weise, Öffentlichkeit herzustellen“?

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    • Felix Petersen
      11. Juli 2013 10:46

      Eingentlich handelt es sich hierbei nur um einen Hinweis; um stark zu machen, dass die türkischen Proteste, unabhängig von der numerischen Menge Protestierender, durch die Inhalte und Formen demokratisch werden. Das eine ganze Menge Menschen protestiert ist auch wichtig, und das hebe ich ja auch hervor („es wurde in 77 von 81 Provinzen protestiert“). Vor dem Hintergrund türkischer Politik hat mich aber vor allem die Art und Weise der Protestes, jenseits der etablierten Akteure und Institutionen, begeistert.

      In der Literatur zu Öffentlichkeit und Protest – beispielsweise in John Deweys „The Public and Its Problems“, Jürgen Habermas „Faktizität und Geltung“, oder Jean Cohens und Andrew Aratos „Civil Society and Political Theory“ – wird aufgezeigt, dass Öffentlichkeiten, als die Politik beeinflussende Akteure, sich nicht allein dadurch auszeichnen, dass viele gegen oder für etwas sind. Entscheidend ist welche Probleme identifiziert und kommuniziert werden, und in welchen Formen der Kommunikationsakt vollzogen wird. Der Beitrag versucht ja darauf hinzuargumentieren, dass hier eine demokratische Öffentlichkeit mit einer autoritär auftretenden Staatsmacht konfrontiert ist. Letztere diskreditiert sich nicht allein, da eine Mehrheit gegen sie ist (wir müssen bedenken, dass Erdogan über eine parlamentarische Mehrheit verfügt), sondern vor allem durch den problematischen Umgang mit den Protesten.

      Im Endeffekt möchte ich aufzeigen, dass wir hier vor allem in den Formen sozialen Handelns die grundsätzlichen Probleme dieser Gesellschaft gespiegelt sehen.

      Antworten
  • Christoph Smets
    11. Juli 2013 12:46

    Ah, vielen Dank, das machte die Sache für mich klarer. Interessanterweise bezog sich ja auch der ausländische „Protest“ der Regierungen und des Europaparlaments auf die Art und Weise, wie der Protest behandelt wurde.

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