Versammlungs(straf)recht und das Mainzer Staatstheater
von SIMON GAUSEWEG
Ginge es nach dem Willen einiger rheinland-pfälzischen Polizisten, hätten 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Bereiche des Mainzer Staatstheaters demnächst Post von der Staatsanwaltschaft erhalten – sie sollen zu laut gesungen haben. Am Abend des 23. November hatten sie am offenen Fenster Beethovens „Ode an die Freude“ aufgeführt – da gleichzeitig gegenüber eine Demonstration der „Alternative für Deutschland“ stattfand, sahen die Ordnungshüter darin gar eine Straftat. Eine abwegige Ansicht, die umso unheimlicher wirkt, da sie die Grundrechte der Chormitglieder völlig außer Acht lässt.
Der Anfangsverdacht
Die Polizei behauptet einen Verdacht auf Verwirklichung des § 21 Versammlungsgesetz (VersammlG). Die Vorschrift gilt in Ermangelung eines rheinland-pfälzischen Versammlungsrechts aufgrund von Art. 125a GG noch aus Zeiten vor der Föderalismusreform fort. Sie bestraft unter anderem „grobe Störungen“ einer Versammlung, die in der Absicht begangen wurden, sie „zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln“. Ein strafrechtlicher Schutz ist aufgrund der fundamentalen demokratischen Bedeutung des Versammlungsrechts auch geboten.
Skandalträchtig machen die Anzeige, die Medienberichten zufolge von der Polizei und erst Tage später auch von den Demonstranten erstattet wurde, erst die Umstände des konkreten Sachverhalts: Vier oder fünfmal soll der 4. Satz Beethovens 9. Sinfonie, u.a. seit 1972 Hymne des Europarates und seit 1985 auch Hymne der Europäischen Union, der AfD entgegengesungen worden sein. Nach Beschwerden der Polizei, so die Aussage des Intendanten im ARD Interview am 24. November, später bei geschlossenen Fenstern. Dennoch glaubte die Polizei offenbar genug Anhaltspunkte für eine „grobe Störung“ und auch die Verhinderungsabsicht zu sehen, um die Strafverfolgung einzuleiten. Die Polizeisprecherin wird damit zitiert, die Musik sei so laut gewesen, dass die Versammlung sogar hätte unterbrochen werden müssen. Dem entgegen stehen diverse im Internet verfügbare Aufzeichnungen (u.a. der ARD), auf denen trotz des Gesanges die Sprecher der „asylkritischen“ Demonstration sogar in den Reihen der auf dem Platz brüllenden und mit Trillerpfeifen und Drucklufthupen lärmenden Gegendemonstranten zu hören waren.
Eine „grobe Störung“ der Versammlung?
Doch selbst wenn die Angaben der Polizei stimmen sollten und die Versammlung tatsächlich unterbrochen werden musste: Eine Verhinderungsabsicht wird nur schwer nachzuweisen sein und wird vom Intendanten des Staatstheaters bestritten. Eine solche ist aber für die Strafbarkeit erforderlich, die bloße Störungsabsicht reicht dazu nicht aus. Es muss den Engagierten des Staatstheaters auch von vornherein klar gewesen sein, dass es zur „Verhinderung“, „Sprengung“ oder „Vereitelung“ einer Versammlung von „Mut-Bürgern“ (AfD-Pressemitteilung) wohl mehr bedarf als eines zur Brüderlichkeit und zum Frieden aufrufenden Liedes. Allein deswegen fehlt bereits der notwendige subjektive Tatbestand. Erst Recht darf man ihn keinesfalls unterstellen oder vermuten, wenn – wie in Mainz geschehen – zwischen den einzelnen Aufführungen minutenlange Pausen lagen und schließlich die Fenster geschlossen wurden, um den von der Polizei kritisierten Geräuschpegel zu reduzieren.
Darüber hinaus ist auch fraglich, ob die Aufführung von Weltkulturerbe überhaupt eine „grobe Störung“ sein kann, zumal sich in dem Freizeitchor wohl auch einige professionelle Sängerinnen und Sänger bzw. Instrumentalisten befanden. Hier ist auf objektive Kriterien abzustellen; auf die subjektive Sicht der Versammelten, kann es nicht ankommen. Andernfalls – eine traurige Lehre der letzten Monate – wäre zuweilen bereits die bloße Präsenz von bspw. Pressevertretern auf Versammlungen eine Störung. Das ist abwegig.
Stattdessen erscheint die „grobe Störung“, im Gesetz gemeinsam mit Vornahme oder Androhung von Gewalttätigkeiten. Sie muss in besonderer Weise erheblich sein (vgl. auch den ähnlichen Wortlaut des § 20 Abs. 2 Nr. 2 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes); das durchaus plastische Merkmal des „Sprengens“ einer Versammlung unterstreicht diese Qualifizierung. Nach den feinen Tönen klassischer Musik klingt das nicht – allenfalls dann, wenn die Musik ohrenbetäubende Lautstärke erreicht hat. Doch davon ist weder nach Inaugenscheinnahme entsprechender Aufzeichnungen noch laut Medienberichten auszugehen.
Schon einen Anfangsverdacht darf man also begründet in Zweifel ziehen, da hilft auch der Hinweis auf das hohe Schutzgut der Versammlungsfreiheit nichts.
Die Grundrechte
Denn, und das kommt in der öffentlichen Debatte bislang eindeutig zu kurz, auch die Aktivisten des Staatstheaters können sich auf ihre Grundrechte berufen: Da wäre zunächst einmal das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das nicht nur Rechtspopulisten gepachtet haben, sondern das ein allgemeingültiges Bürgerrecht ist. Insbesondere gilt es auch für die Sängerinnen und Sänger des Staatstheaters: Und tatsächlich sangen die Musiker und Musikerinnen nicht nur von einer Welt ohne Ausgrenzung („Alle Menschen werden Brüder“), sondern zeigten ein Banner mit einem einschlägigen Zitat aus Lessings „Nathan der Weise“ gegen Intoleranz („Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach“) oder Transparente (z.B. „Verantwortung statt Hetze“). Eine politische Versammlung lag damit eindeutig vor.
Auch die Aktion des Staatstheaters stand daher unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit – streng genommen sogar schrankenlos, da die Versammlung nicht unter freiem Himmel, sondern im Staatstheater stattfand. Eine Anmeldung darf der Staat von einer solchen Versammlung erst recht nicht verlangen. Es ist deswegen auch nur begrenzt nachvollziehbar, weswegen die Polizei per Lautsprecherdurchsage ausdrücklich betonte, dass für die AfD-Veranstaltung eine Anmeldung vorlag. Ein „älteres Recht“ einer der betreffenden Versammlungen, das zu einer ausschließlichen Grundrechtsausübung berechtigte, lässt sich auch aus dem Prioritätsgrundsatz nicht herleiten: Versammlung und Gegenversammlung(en) sind gleichermaßen vom Schutzbereich von Art. 8 GG umfasst und sind gleichermaßen legitim – ein absoluter Grundsatz „Ich war aber zuerst da!“ mag in Kindergärten an der Tagesordnung sein, dem Versammlungsrecht ist er fremd.
Im Rahmen des hier notwendigen Interessensausgleiches zwischen den Parteien ist zwar zu berücksichtigen, dass von der Versammlung unzweifelhaft eine Beeinträchtigung der AfD-Demonstration ausging. Doch eine andere Versammlung durch die eigene zu beeinträchtigen ist vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit umfasst.
Eine grundrechtskonforme Auslegung des § 21 VersammlG wird dementsprechend nicht ohne eine Abwägung der kollidierenden Grundrechte auskommen. Im Ergebnis werden die Teilnehmer einer Versammlung Störungen durch andere Versammlungen, die nicht umsonst in Sicht- und Hörweite protestieren dürfen, hinnehmen müssen. Es gehört zum Kern des Versammlungsrechtes, die eigene Meinung mit gehörigem Nachdruck in der Öffentlichkeit und auch gerade denjenigen mit anderer Meinung zu präsentieren. Politisch gegenüberstehende Versammlungen müssen schon in Ansehung der eigenen Rechte akzeptieren, zuweilen von der jeweils anderen übertönt zu werden. Deutlicher formuliert: Selbst das Vorliegen einer Störung ist kein zureichender, tatsächlicher Anhaltspunkt (§ 152 StPO) für das Vorliegen einer Straftat.
Zu guter Letzt steht auch die Kunstfreiheit als grundgesetzlich verbrieftes – schrankenloses! – Jedermannsrecht auf Seiten des Staatstheaterpersonals. Auch dies hätte ein kundiger, maßvoller Rechtsanwender in seine Überlegungen mit einzubeziehen.
Fazit
Inzwischen steht zu erwarten, dass niemand etwas befürchten muss. Davon unabhängig gehört dazu, dass das Weltkulturerbe eines musikalischen Genies zur „groben Störung“ wird, dennoch wesentlich mehr als eine Polizei, die im besten Fall keine Vorstellung von der verhältnismäßigen Anwendung des Versammlungsrechts hat – oder, schlimmstenfalls, demokratischen Protest gegen Rechtspopulismus unterbinden möchte.