EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vergangene Woche die Prüfung der Zulässigkeit einer EU-weiten Impfpflicht angeregt. Vor dem Hintergrund, dass in Europa ein eher heterogenes Stimmungsbild gegenüber einem solchen Grundrechtseingriff herrscht, bedarf dieses Vorhaben einer Untersuchung. Es ist zu prüfen, ob die EU hierzu die notwendige Kompetenz innehat – und wenn nicht, ob sie sie erhalten sollte.
Erst letzte Woche hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch (01.12.2021) in Hinblick auf die Omikron-Variante des Corona-Virus auf einer Pressekonferenz in Brüssel die Prüfung einer allgemeinen EU-weiten Impfpflicht erwogen. Die erhofften Vorteile liegen auf der Hand: rund ein Drittel der EU-Bürger*innen sei bisher nicht gegen das Corona-Virus geimpft, und die Ausbreitung mache insbesondere nicht vor den aufgeweichten Grenzen des Staatenverbunds halt. Der von ihr angesprochene Weg würde jedenfalls dazu beitragen können, flächendeckend die Immunität der EU-Bevölkerung zu erhöhen. Auf der anderen Seite handelt es sich hierbei um intensive Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, weshalb die Thematik durchaus dazu in der Lage ist, die europäische Gesellschaft zu spalten. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die EU ihren Mitgliedstaaten eine solche Regelung auferlegen kann – und falls nicht, ob sie es können sollte.
Nationale Ebene
Betrachtet man die nationalen Ebenen der EU-Mitgliedstaaten, wird kein flächendeckendes, sondern eher ein heterogenes Meinungsbild gegenüber einer Impfpflicht deutlich. So ist in vielen Ländern nicht damit zu rechnen, dass eine solche in naher Zukunft kommen wird (z.B. Schweden, Spanien oder Portugal). (Bisher) geht es lediglich für unseren deutschsprachigen Nachbarn bald los: in Österreich ist es geplant, Anfang kommenden Jahres eine generelle Corona-Impfpflicht durchzusetzen. Ansatzweise besteht eine solche bereits z.B. in Belgien, Griechenland oder Italien. Hier wurden einzelne Berufsgruppen „kritischer“ Tätigkeitsbereiche wie Gesundheit oder Pflege einer solchen unterworfen.
Auch in Deutschland werden die befürwortenden Stimmen angesichts der steigenden Inzidenz sowie der bedrohlichen Auslastung der Intensivstationen vielzähliger und lauter. Sollte es noch vor wenigen Wochen, nach Aussagen einzelner Politiker der „Ampel“, keine generelle Impfpflicht geben, scheint die Infektionslage inzwischen selbst Freie Demokrat*innen zu einem Umdenken zu bewegen. Dementsprechend wird es voraussichtlich ab März 2022 zumindest für Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eine derartige Verpflichtung geben. Darüber hinaus sollen erst Anfang nächsten Jahres Entscheidungen getroffen werden. Ob verfassungsrechtlich zulässig oder nicht: diese Thematik polarisiert.
Europäische Ebene
Es ist zu klären, ob für von der Leyens Überlegungen, mittels europäischer Handlungsform den nationalen Gesetzgeber zu einer Impfpflicht zu bewegen, eine Rechtsgrundlage existiert. Dass die EU bereits in vielen Bereichen der Gesundheitspolitik agiert, ist richtig. Freilich gehört auch das „Wohlergehen ihrer Völker“ (Art. 3 Abs. 1 EUV) sowie die „Verbesserung der Umweltqualität“ (Art. 3 Abs. 3 EUV) zu ihren Zielen. Insbesondere aufgrund des Regelungscharakters als auch der Eingriffsintensität einer Impfpflicht unterscheidet sich diese allerdings von den bisher praktizierten Aktivitäten. Es ist daher zu prüfen, ob hierzu eine entsprechende europäische Zuständigkeit besteht. Dies ist nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) der Fall, wenn Deutschland sowie die anderen Mitgliedstaaten die entsprechende Kompetenz der EU übertragen haben.
Art. 168 AEUV
Nach Art. 168 Abs. 1 AEUV kann die Tätigkeit der Union die Politik der Mitgliedstaaten im Bereich der Gesundheitspolitik ergänzen. Sie kann auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit gerichtet sein. Diese Kompetenzen beziehen sich auf ein gesundheitsbezogenes Vorsorge- und Gefahrenabwehrrecht (Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV, Art. 168 Rn. 1). Die Vorschrift enthält unterschiedliche Kompetenztypen. Neben der nicht für eine Impfpflicht in Betracht kommenden sog. Querschnittsklausel des Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, welche die Union insbesondere bei der Verfolgung anderer Vertragsziele dazu verpflichtet, den Gesundheitsschutz nicht aus den Augen zu verlieren, existieren in Art. 168 Abs. 2 bis Abs. 5 AEUV Regelungen über die zulässigen Handlungsformen der Union in der Gesundheitspolitik. Diese werden allerdings insofern beschränkt, als dass lediglich ergänzende (Abs. 1), unterstützende (Abs. 2; Abs. 5) und koordinierende (Abs. 2 UAbs. 2) Maßnahmen erfasst werden. Damit kann die EU zur „Verhütung von Humankrankheiten“ (Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV) wie dem Corona-Virus lediglich auf diese Weise tätig werden. Zwar werden von dem Begriff der „Maßnahme“ sämtliche Rechtsakte nach Art. 288 AEUV erfasst, allerdings setzen die drei genannten Kategorien zwingend voraus, dass entsprechende Rechtsakte lediglich in solchen Bereichen möglich sind, welche bereits auf nationaler Ebene vom Gesetzgeber geregelt wurden. Es muss bereits etwas existieren, was die EU i.S. des Art. 168 AEUV ergänzen, unterstützen oder koordinieren kann. Aus diesem Grund kann die EU auch z.B. keine verbindlichen öffentlichen Rauchverbote verhängen (Rossi/Lenski, NJW 2006, 2657). Mit Blick auf eine Impfpflicht ist festzustellen, dass sich der deutsche Gesetzgeber sowie die meisten anderen Mitgliedstaaten keine derartige Regelung etabliert haben, die die Union „ergänzen“, „fördern“, oder „unterstützen“ könnte. Würde sie tätig werden, überschreitet sie damit ihre Kompetenz. Die Implementierung einer EU-weiten Impfpflicht wäre auch faktisch aufgrund abweichender nationaler Bestrebungen keine Unterstützung, sondern könnte sogar in Widerspruch zu nationalen Bekämpfungskonzepten stehen. Die einzig ersichtliche zulässige Handlungsform innerhalb der europäischen Zuständigkeit wäre das Aussprechen entsprechender Empfehlungen nach Art. 168 Abs. 6 AEUV, um auf unverbindliche Weise zwischen den Mitgliedstaaten beispielsweise per Informationsaustausch die Impfpolitik zu koordinieren.
Engere Verwirklichung der Union
Mit Blick auf die Ziele sowie die Kompetenzen der EU wird deutlich, dass auch im Gesundheitswesen das europäische Versprechen kürzer reicht als die europäischen Handlungsmöglichkeiten. Um dieser Kluft zu begegnen, hat die Kommission bereits 2020 einen Vorschlag zum Aufbau einer Europäischen Gesundheitsunion unterbreitet, womit die Resilienz der grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren gestärkt werden soll. Hierin wird die Möglichkeit von Handlungsformen zur Prävention und zum Umgang mit Gesundheitsrisiken vorgeschlagen. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß von der Leyens zur gegenwärtigen Rechtslage nicht als reale juristische Möglichkeit, sondern vielmehr als politischer Schachzug einzuordnen. Vermutlich geht es darum, die Union der Völker Europas auch im Gesundheitswesen ganz im Sinne der Methode Monnet immer enger zu verwirklichen (vgl. Art. 1 EUV).
Diese Integration mit polarisierenden Handlungsformen wie einer Impfpflicht zu bewerben, birgt allerdings eine gewisse Janusköpfigkeit. Auf der einen Seite regt die Thematik dazu an, sich mit entsprechenden Szenarien zu beschäftigen und darüber nachzudenken oder zu diskutieren – wie Sie es gerade beim Lesen dieses Blogbeitrags bemerken und ich es bei dessen Niederschrift bemerkt habe.
Auf der anderen Seite ist gerade das Thema der Impfpflicht so brisant, dass, wie oben bereits am Beispiel einzelner Mitgliedstaaten veranschaulicht, ein staatlicher Konsens derzeit irreal scheint. Auf diesem Weg mit der Holzhammermethode eine Integration herbeizuführen, wird vermutlich keine gewünschten Früchte tragen. Es besteht zwischen den Staaten keine Homogenität, sondern innerhalb des Staatenverbundes „Antinomien“ (vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 370), deren Ignoranz wohl kaum zu echter Solidarität zwischen europäischen Bürger*innen führen kann. Eine derartige Basis wäre aber erforderlich, um legitimiert zu handeln.
Würdigung
Auch wenn die gegenwärtige Krise sicherlich eine gute Möglichkeit darstellen kann, über weitere gemeinsame europäische Handlungsformen nachzudenken, kann die „Solidarität zwischen ihren Völkern“ (Präambel des EUV) auch während der Corona-Krise und in Anbetracht noch nie da gewesener Inzidenzen innerhalb der EU nur effektiv gestärkt werden, wenn hinsichtlich des geplanten europäischen Rechts auch ein europäischer Konsens erkennbar ist.
Zitiervorschlag: Tim Niklas Dapprich, Gedanken zu einer EU-weiten Impflicht – Handeln ohne Legitimität?, JuWissBlog Nr. 110/2021 v. 10.12.2021, https://www.juwiss.de/110-2021/.
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