von NILS SCHAKS
Das Bundesverwaltungsgericht hat am 27. Februar 2014 über die Zulässigkeit von Beamtenstreiks verhandelt und entschieden (AZ: 2 C 1/13). Allein nach nationalem Recht war die Rechtslage eindeutig: Art. 33 V GG verbietet den Beamtenstreik. So jedenfalls die bislang ganz herrschende Meinung. Aber wie wirkt sich der Einfluss der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK hierauf aus? Nach mehrstündiger Verhandlung und Beratung fällte der 2. Senat des BVerwG ein bemerkenswertes Urteil.
Eine Lehrerin streikt
Eine verbeamtete Realschullehrerin aus NRW streikte unter Berufung auf Art. 11 EMRK. Zwei Entscheidungen des EGMR gegen die Republik Türkei von 2008 und 2009, in denen das Straßburger Gericht feststellte, dass Art. 11 EMRK das Streikrecht schütze und sich auch Beamte hierauf berufen können, hatten Zweifel am grundgesetzlichen Streikverbot aufgeworfen und eine lebhafte Debatte im Schrifttum ausgelöst. Der EGMR hatte in diesen Entscheidungen ein generelles statusbezogenes Streikverbot für konventionswidrig erachtet. Gleichwohl disziplinierte der Dienstherr die Lehrerin für ihr streikbedingtes Fernbleiben vom Dienst mit einer Geldbuße. Das hiergegen angerufene VG Düsseldorf nahm in erster Instanz zwar eine Dienstpflichtverletzung (als Voraussetzung für die Disziplinarmaßnahme) an, da die EMRK das Fernbleiben vom Dienst nicht rechtfertigen könne. Das Gericht hob die Geldbuße aber wegen Art. 11 EMRK aus speziellen disziplinarverfahrensrechtlichen Gründen auf. Dem folgte das OVG NRW als Berufungsinstanz nicht: Eine Aufhebung des Streikverbots würde das Beamtenverhältnis grundsätzlich umgestalten und damit eine tragende Strukturbestimmung des Grundgesetzes berühren, was methodisch unzulässig sei. Die damit gegebene Dienstpflichtverletzung müsse auch disziplinarrechtlich geahndet werden. Damit lag es am BVerwG eine höchstrichterliche Klärung herbeizuführen.
Das BVerwG verhandelt
Um 10 Uhr begann die mündliche Verhandlung. Der Berichterstatter führte in den Sach- und Streitstand ein. Hier gab es eine Überraschung: Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin teilte mit, dass seine Mandantin vor über einem Jahr auf eigenen Wunsch aus dem Beamtenverhältnis ausgeschieden war. Das Gericht zog sich für 20 Minuten zur Beratung zurück, um zu klären, wie mit diesem neuen Umstand umzugehen sei. Nach der Wiederaufnahme der Sitzung erfolgte ein ausführliches Rechtsgespräch. Das Rechtsgespräch wurde in vier Themenblöcke gegliedert:
1. Folgt aus Art. 33 V GG ein generelles und rein statusbezogenes Beamtenstreikverbot?
2. Betrifft Art. 11 EMRK, wie ihn der EGMR in den Entscheidungen Demir und Baykara sowie Enerji Yapi-yol Sen ausgelegt hat, auch die deutsche Rechtslage oder berührt er sie wegen der unterschiedlichen nationalen Ausgestaltungen des jeweiligen Beamtenrechts nicht?
3. Unterstellt, Art. 11 EMRK wäre anwendbar, wie wäre der Normkonflikt zwischen Art. 11 EMRK und Art. 33 V GG aufzulösen?
4. Welche Bedeutung hat dies für die Höhe der Sanktion?
Während der Verhandlung wurde einerseits deutlich, dass der Senat an der bisherigen Auslegung des Art. 33 V GG nicht rütteln würde. Andererseits zeichnete sich aber auch ab, dass das BVerwG davon auszugehen schien, dass die Entscheidungen des EGMR gegen die Türkei auch auf die deutsche Rechtslage übertragbar seien. Die unterschiedliche Ausgestaltung der nationalen Systeme des öffentlichen Dienstes rechtfertige es nicht, die Entscheidungen als für Deutschland unbeachtlich anzusehen. Die Höhe der Sanktion wurde lediglich kurz diskutiert. Somit war der spannendste und letztlich auch entscheidende Punkt, wie der Senat den Konflikt zwischen Art. 11 EMRK und Art. 33 V GG auflösen würde:
Der Vorsitzende Richter verwies auf die Rechtsprechung des BVerfG, wonach es nicht der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes widerspreche, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.“ Und es stellte sich die Frage, wer zu der Kollisionsauflösung berufen sei: die Fachgerichte, das BVerfG oder der (verfassungsändernde) Gesetzgeber? Der Vertreter der Klägerin meinte, dass eine Verurteilung durch den EGMR nach Auffassung des BVerfG unbedingt zu vermeiden sei. Bis zu einer anderweitigen Regelung gelte Art. 11 EMRK zu Gunsten der Beamten. Diese hätten zusätzlich zu ihren Beamtenrechten nun ein Streikrecht, weshalb die Gerichte die Disziplinarverfügungen aufheben müssten. Der Beklagtenvertreter hingegen verwies darauf, dass das Verfassungsrecht eindeutig sei und einer „Rosinenpickerei“ bzw. einem „Beamtenverhältnis light“ entgegenstünde. Tätig werden könne nur der verfassungsändernde Gesetzgeber.
Das Urteil
Um 14:30 Uhr war es schließlich soweit: Die Revision der ehemaligen Lehrerin wurde mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass festgestellt wurde, dass die Disziplinarmaßnahme dem Grunde nach rechtmäßig war. Die Geldbuße wurde von 1.500 € auf 300 € reduziert. Die wesentlichen Gründe:
1. Art. 33 V GG gelte auch außerhalb der eigentlichen Hoheitsverwaltung und statuiere ein generelles statusbezogenes Beamtenstreikverbot. Dieses sei wesentlicher Teil des Pflichten- und Rechtegefüges, welches das Beamtenverhältnis auszeichnet.
2. Der EGMR als authentischer Interpret habe Art. 11 EMRK ein Recht der Staatsbediensteten auf Tarifverhandlungen über die Arbeitsbedingungen und ein daran anknüpfendes Streikrecht entnommen. Nur für schwerpunktmäßig hoheitlich tätige Beamte (u.a. Polizei) könne das Streikrecht generell ausgeschlossen werden.
3. Da die Schullehrer nicht zu dieser Gruppe gehörten, bestehe eine Kollisionslage zwischen Art. 33 V GG und Art. 11 EMRK. Zur Konfliktlösung seien nicht die Gerichte, sondern der (Bundes-)Gesetzgeber aufgerufen. Deshalb verbleibe es bis zur gesetzlichen Neuregelung bei dem verfassungsrechtlichen Streikverbot.
Ausblick
Der Gesetzgeber hat vom BVerwG den Auftrag erhalten, den Bereich der genuin hoheitlichen Tätigkeit, in dem ein generelles Streikverbot bestehen darf, vom übrigen Bereich der Staatstätigkeit abzugrenzen. Für letzteren muss ein Recht auf Tarifverhandlungen über die Arbeitsbedingungen und ein daran anknüpfendes Streikrecht gewährt werden. Bemerkenswert ist überdies die Feststellung des Senats, dass die „Besoldungsgesetzgeber im Bund und in den Ländern […] verfassungsrechtlich gehindert [sind], die Beamtenbesoldung von der Einkommensentwicklung, die in den Tarifabschlüssen zum Ausdruck kommt, abzukoppeln.“ Dieses obiter dictum über den verfassungsrechtlichen Zusammenhang zwischen den Tarifabschlüssen und der Besoldungserhöhung ist überraschend, da nicht durch den Streitgegenstand veranlasst.
Der Entscheidung ist in weiten Teilen zuzustimmen. Legt man die Rechtsprechung des BVerfG zur Völkerrechtsfreundlichkeit des GG zu Grunde, dann bewegte sich die Zuerkennung des Rechts auf Tarifverhandlungen und eines Streikrechts nicht mehr im Rahmen des methodisch Vertretbaren. Die Übertragung der Regelungsaufgabe auf den Gesetzgeber ist überzeugend. Es handelt sich um eine wesentliche Entscheidung, die erhöhter demokratischer Legitimation bedarf. Allerdings ist zweifelhaft, ob eine solche Regelung noch eine „Fortentwicklung“ i.S.d. Art. 33 V a.E. GG darstellt oder nicht vielmehr eine Verfassungsänderung erforderlich wäre. Der Blick auf das kollektive Arbeitsrecht gibt jedoch wenig Anlass zu Optimismus. Das einzuführende Tarifverhandlungs- und Streikrecht wird das tradierte Beamtenrecht zwar verändern, da dieses nur für einen Teil des bisherigen Beamtentums bestehen bleiben kann. Rechtlich ist es jedoch – zumindest mit Wirkung für die Zukunft – möglich, vermehrt öffentlich-rechtliche Anstellungsverhältnisse abzuschließen. Dann käme es lediglich zu einer quantitativen Verschiebung der verschiedenartigen Rechtsverhältnisse im Öffentlichen Dienst, jedoch nicht zwingend zur Herausbildung eines qualitativ neuen Typus des Beamtenverhältnisses neben dem überkommenen. Dies würde zu einer Annäherung dreier Rechtskreise führen: Die Begriffe „Ausübung hoheitlicher Befugnisse“ (Art. 33 IV GG), „Staatsverwaltung“ (Art. 11 II 2 EMRK) und „öffentliche Verwaltung“ (Art 45 IV AEUV) würden zukünftig aus nationaler Sicht einheitlich zu verstehen sein.
Die ehemalige Beamtin kündigte bereits an, Verfassungsbeschwerde einlegen und notfalls nach Straßburg gehen zu wollen. Es bleibt also spannend.
[Hinweis der Redaktion: Das besprochene Urteil ist auch Gegenstand eines weiteren Beitrags von Gabriele Buchholtz]
4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Lieber Nils, hat der Widerspruch zwischen konventionswidrigem Verfassungsrecht und dem Auftrag an den Gesetzgeber, einen konventionsgemäßen einfachgesetzlichen Zustand herzustellen, in der Verhandlung eine Rolle gespielt?
Lieber Stefan,
insofern finde ich (ohne das Urteil selbst bereits gelesen zu haben) Gabrieles Beitrag „Fehlender Mut am BVerwG“ instruktiv. Wie soll der Gesetzgeber ein Streikrecht etablieren, wenn doch die Verfassung in der nun erneut bestätigten Auslegung ein Streikverbot enthält? Ein Schritt weiter hätte diesen Konflikt vermieden…
das meine ich. ich frage mich nur, ob die richter/innen sich dieses konfliktes, ja, dieser paradoxie bewusst waren. dies hat sich vielleicht in der verhandlung geäußert…
Lieber Stefan, lieber Thomas,
vielen Dank für Eure Nachfragen. Der Punkt, den Ihr ansprecht, spielt auch in dem Kommentar von Mehrdad Payandeh zu dem Beitrag von Gabriele Buchholtz eine wichtige Rolle. Nachfolgend meine Beobachtungen aus der Verhandlung hierzu:
Wie der Konflikt zwischen Art. 11 EMRK und Art. 33 V GG aufzulösen ist und v.a. wer ihn auflösen kann, hat eine wichtige Rolle gespielt.Die Auffassung des Beklagtenvertreters, dass eine Verfassungsänderung erforderlich sei, wurde von einem Beisitzer – sinngemäß – mit den Worten kommentiert: „Dann wäre das auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben.“ Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin meinte, dass die Gerichte das Streikrecht zusätzlich zu den bestehenden Rechten aus dem Beamtenverhältnis gewähren könnten, da nur so der EMRK Rechnung getragen würde. An späterer Stelle sprach er aber auch von einer erforderlichen gesetzlichen Grundlage, was vom Vorsitzenden Richter als Widerspruch aufgegriffen wurde. Der Vorsitzende Richter betonte, dass die Anerkennung eines Rechts auf Tarifverhandlungen und eines Streikrechts Auswirkungen auf das Beamtenverhältnis in jedweder Hinsicht hätte. Dies würde den Gesetzgeber, aber „erst recht“ die Gerichte vor Probleme stellen. Aus diesem „erst recht“ meinte ich herauszuhören, dass der Senat sich selbst nicht in der Lage sah, das Streikrecht zuzubilligen. Außderdem tauchte zweimal der Begriff „Büchse der Pandora“ im Zusammenhang mit dem Streikrecht auf.
Anschließend wurde relativ knapp diskutiert, wie der Gesetzgeber eine Regelung treffen könnte. Es wurde vom Berichterstatter auf die Fortentwicklungsklausel des Art. 33 V GG hingewiesen, die auch eine Änderung bestehender Grundsätze zulasse. Dies muss man wohl so verstehen, dass auch eine von der bisherigen Rechtslage abweichende Austarierung der hergebrachten Grundsätze durch den (einfachen) Gesetzgeber noch als Fortentwicklung zulässig sein soll. Diesen Punkt sehe ich inzwischen etwas kritischer. Denn zwischen einer Fortentwicklung und einer Änderung bzw. Abschaffung dürfte ein inhaltlicher Unterschied bestehen.