Zehn Fragen an… Professor Dr. Felix Hanschmann zu Habitus und Fremdheitsgefühlen in der Rechtswissenschaft

Interview von LAMIA AMHAOUACH-LARES und FELIX WÜRKERT

Vom 18. bis 21. Juli 2023 fand in Hamburg die 63. Junge Tagung Öffentliches Recht (JTÖR) zum Thema Interaktionen: Internationalität, Intra- und Interdisziplinarität statt. In diesem Rahmen hielt Prof. Dr. Felix Hanschmann an der Bucerius Law School ein Grußwort, durch welches dieses Interview angestoßen wurde.

JuWiss: In Ihrem Vortrag haben Sie ein düsteres Bild von Diversität in der Rechtswissenschaft gezeichnet, wo liegt der Kern des Problems? Wo schlägt sich das nieder?

Hanschmann: Ich würde grundsätzlich sagen, dass die Reproduktionsbedingungen in der Rechtswissenschaft anders als in anderen Studienfächern überdurchschnittlich stark herkunftsbedingt sind. Es gab in der Studie von Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh über Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis den Satz, dass die Rechtswissenschaft die Fächergruppe sei mit der größten sozialen Geschlossenheit. Das sehen wir an der Zusammensetzung der Studierendenschaft, wir sehen es bei den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und wir sehen es an der Zusammensetzung der Professor:innen – und zwar unabhängig davon, welches Diversitätskriterium wir heranziehen. Also selbst wenn wir Geschlecht nehmen, würden wir sagen, dass wir da zumindest in der Studierendenschaft heute kein Problem mehr haben, weil es da relativ ausgeglichen ist und es mitunter mehr Frauen in der Studierendenschaft gibt als Männer. Da kommt die Benachteiligung in späteren Berufsstadien. Aber wenn wir auf Herkunft schauen, wenn wir auf Milieus schauen, aus denen die Leute kommen, wenn wir auf People of Colour schauen, dann ist es doch relativ undivers oder anders gesagt: sehr homogen. An diesem düsteren Bild würde ich auch festhalten. Es lässt sich empirisch ja auch belegen, wie die Kolleg:innen gezeigt haben.

Das ist aus mindestens vier Gründen ein Problem:

1) Erst mal ist es ein normatives Problem. Es widerspricht unseren grundgesetzlich abgesicherten Forderungen nach Chancengleichheit oder nach der Forderung, dass der Bildungsabschluss, der Bildungserfolg oder der Bildungsaufstieg nicht abhängig sein soll von Kriterien, die nicht leistungsbezogen sind. Das sind herkunftsbezogene Aspekte aber.

2) Zweitens ist es ein ökonomisches Problem, weil wir ein enormes Potenzial vergeuden an Talenten, Ressourcen, Kompetenzen und Fähigkeiten. Bildungsökonom:innen nennen das Humankapitalschwäche. Das verschleudern wir einfach, weil wir jungen Menschen gar nicht die Möglichkeit geben, überhaupt in das Studium zu kommen. Und wenn sie in ein Studium kommen, dann entscheiden sich junge Menschen mit Migrationshintergrund im Verhältnis zu jungen Menschen ohne Migrationshintergrund vergleichsweise häufig für ein Jurastudium. Als „Aufstiegsfach“ ist Jura zudem für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Vergleich zu anderen Fächern überdurchschnittlich beliebt. Allerdings ist mit einem Migrationshintergrund die Gefahr des Scheiterns im Jurastudium auch deutlich höher.

3) Außerdem berauben wir uns der Chance, und zwar sowohl institutionell als auch persönlich, die Vorteile von Diversität zu generieren; beispielsweise Perspektivenvielfalt, Einbringen unterschiedlicher Erfahrungen oder Steigerung von Kreativität bei der Lösung von Problemen.

4) Schließlich sind die sozialen Disparitäten in der Rechtswissenschaft gesellschafts- und integrationspolitisch ein massives Problem. Man muss sich ja nur fragen, welche Folgen es langfristig hat, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen von einem Studium im Allgemeinen oder auch vom Jurastudium im Besonderen ausgeschlossen sind. Was ist das für ein Rechtssystem, in dem wir beinahe nur weiße Richter:innen haben? Was hat das für Auswirkungen auf Student:innen, wenn sie an eine Uni kommen und sie werden in den ersten vier, fünf oder sechs Semestern ihres Studiums nicht einmal mit einer Frau in der Lehre konfrontiert? Das sind verheerende Signale, deren Wirkungen man noch gar nicht absehen kann.

JuWiss: Welche Anstrengungen unternehmen Sie, um Diversität zu fördern?

Hanschmann: Das ist eine sehr gute Frage, die ich mir als an mich persönlich gerichtete Frage so im Berufsalltag noch nie explizit gestellt habe. Jetzt habe ich mal länger darüber nachgedacht. Als erstes ist da die Einstellungspraxis. Also: Welche Leute stellt man ein und wie schaut man, was sie für unterschiedliche Hintergründe mitbringen? Dann kann man sagen, man schaut vielleicht auf einen Migrationshintergrund oder auf das Geschlecht, dass das einigermaßen ausgeglichen ist. Das ist eher diffus. Ich würde nicht sagen, dass man da einen Katalog macht und das irgendwie etwas Zwanghaftes hat. Aber das ist zumindest schon mal etwas, wo man auf Diversität achten kann.

Und dann geht es weiter mit der Frage: Wie gehe ich mit meinen Mitarbeiter:innen um? Also: Reproduziert man einen bestimmten Habitus, der einem in der Rechtswissenschaft hier und da begegnet, den ich selbst aber kritisch betrachte? Oder überlege ich mir ganz bewusst: was will ich anders machen im Umgang miteinander?

Das heißt nicht, dass man Hierarchien, die systemisch angelegt sind, rausbekommt. Am Ende bin ich derjenige, der das Gutachten zur Dissertation schreibt und eine Note vergibt. Am Ende bin ich auch derjenige, der die studentischen Mitarbeiter:innen des Lehrstuhls vielleicht in irgendeiner Prüfung hat. Es wäre deshalb Quatsch zu sagen: Nur weil man sich duzt, bekommt man strukturelle Asymmetrien raus. Aber ich glaube schon, dass die Art und Weise des Umgangs miteinander wichtig ist. Bourdieu hat es mal Gegendressur genannt, die aber auch Arbeit bedeute. Dressur finde ich einen blöden Begriff von Bourdieu, aber dass man eben bewusst versucht, es anders zu machen, vielleicht mit flacheren Hierarchien, einbeziehender, weniger formal, wertschätzender, einfach mit einer anderen Art des Miteinanderumgehens. Nicht nach dem – leider immer wieder vorkommenden – Motto: „Ich danke meinem Mitarbeiter X für wertvolle Hilfe bei der Recherche“, obwohl eben jener Mitarbeiter X signifikante Teile (oder alle) des Aufsatzes geschrieben hat.

Ein anderer Punkt ist, und dazu gibt es ja mittlerweile auch eine Diskussion und es gibt Studien, z.B. von Ute Sacksofsky, Caroline Stix oder Dana-Sophia Valentiner: Wie gestalten wir unsere Sachverhalte? Man sollte in Sachverhalten oder in Lösungshinweisen versuchen, Stereotype zu vermeiden. Sachverhalte sollten möglichst pluralistisch und heterogen formuliert sein. Frauen sind dann eben nicht immer nur die intellektuell begrenzte Friseuse, die das Geld ihres als Chefarzt arbeitenden Ehemanns für Klamotten ausgibt oder mit dessen Kohle eine Boutique oder ein Nagellackstudio eröffnen darf. Und Menschen mit einem ausländischen Namen oder aus einem bestimmten Land klauen nicht die ganze Zeit deutsche Luxuskarossen.

Wichtig ist mir noch, und das hat mir auch an der Jungen Tagung Öffentliches Recht gefallen, und das merke ich auch an den Reaktionen, die ich danach bekommen habe: Vernetzung. Ich glaube, es ist ganz wichtig, sich miteinander zu vernetzen, um nicht isoliert zu bleiben, nicht allein zu sein mit seinen Erfahrungen und Ängsten, um zu sehen, dass das keine individuellen Probleme oder Wahrnehmungen sind.

Ansonsten beteilige ich mich an unterschiedlichen Ideen und Projekten unserer Hochschule zum Diversitymanagement, z.B. einer Videoreihe zu Diversität an der Bucerius Law School, die nach dem oben Gesagten einen kritischen Blick nicht außen vor lassen kann. Diversitymanagement muss institutionell und selbstkritisch passieren, das kann man nicht allein machen und das passiert nicht einfach so.

JuWiss: Sie haben beschrieben, wie sie sich bei ihrer ersten ATÖR (Assistententagung Öffentliches Recht, seit 2020 JTÖR) unwohl und fehl am Platz gefühlt haben. Fühlen Sie sich heute noch immer unwohl in solchen Räumen? Wenn ja, äußern Sie das? Oder ist Ihnen die Frage zu persönlich?

Hanschmann: Nein, ganz und gar nicht. Der rechtswissenschaftliche Habitus ist stark geprägt von Objektivität, Neutralität und Distanz. Ich glaube, gerade deshalb ist es wichtig, persönlich zu werden.

Ja, definitiv. Ich fühle mich immer noch unsicher und unwohl. Das sind glaube ich die zwei dominierenden Gefühle. Unsicher und unwohl. Es nimmt ein bisschen ab. Es nimmt ab mit der Zeit, in der ich mich in einer Institution bewege. Ich glaube, es nimmt auch ab, so ehrlich muss man sein, mit der Position, die man innehat.

Es hängt vor allen Dingen aber von den Verhältnissen ab, die ich zu den Personen in der Institution aufbaue. „Personen“ ist zu abstrakt gesagt, weil es geht bei diesen Gefühlen der Unsicherheit und des Unwohlseins für mich vor allem um die sozialen Beziehungen, Kontakte, Gespräche mit Professor:innen. Das ist biographisch bedingt. Für meine Eltern, die als Reinigungskraft und Elektriker gearbeitet haben, waren Ärzt:innen, Lehrer:innen oder der Pfarrer immer Menschen, denen meine Eltern mit so einer spürbaren Unterwürfigkeit gegenüber getreten sind. Professor:innen haben sie bis zu meiner Disputation nie kennengelernt.

Wenn ich auf so einer Veranstaltung bin – das ist heute immer noch so – und ich gehe zu den Leuten, die das Catering machen oder die Bar, dann fühle ich mich sofort wohl. Ganz sicher. Ich habe das Gefühl, ich kann sofort etwas sagen, ich treffe den Ton, ich komme sofort ins Gespräch – das ist alles überhaupt kein Problem. Sobald ich mich wegdrehe und ich unterhalte mich mit Professor:innen, ist das Gefühl wieder da.

Meine Frau sagt immer: „Du stehst ganz komisch in solchen Situationen. Du stehst anders, als du normalerweise stehst.“ Also offensichtlich geht das Gefühl bis in die Körperhaltung hinein, aber es nimmt ab.

JuWiss: Sie haben es eben schon angedeutet, dass es einen rechtswissenschaftlichen Habitus gibt. Wie würden Sie den in wenigen Worten beschreiben?

Hanschmann: Ganz kurz: bürgerlich. In ein paar mehr Stichworten: Bürgerlich, weiß, ganz dominant weiß, ziemlich überwiegend männlich, stark geprägt von Objektivität, Neutralität, ohne offene politische Positionierung – besonders im öffentlichen Recht interessanterweise bei gleichzeitiger Nähe zu politischen Institutionen. Ich würde sagen, es gibt eine Distanz bei gleichzeitiger Affirmation des Gegenstandes, also Gesetzen, mit denen wir uns auseinandersetzen. Und zu guter Letzt: hierarchisch. Wir haben ja ganz viel Lehrer:innen-Schüleri:nnen-Verhältnisse: Doktormütter, Doktorväter und Festschriften, die typischerweise von den ehemaligen Habilitand:innen herausgegeben werden.

JuWiss: Könnten Sie noch etwas zum Geschmack bzw. ästhetischen Vorlieben als Bestandteil dieses rechtswissenschaftlichen Habitus sagen?

Hanschmann: Ich weiß jetzt nicht, wie es bei der JTÖR war, aber nehmen wir mal die Staatsrechtslehrertagung im Hinblick auf Kleidung, wobei ich nicht weiß, ob das Geschmack ist oder eher Konformität. Männer sind immer im Anzug und nahezu auch immer mit einer Krawatte. Es ist immer – ich überspitze jetzt ein bisschen – dieses klassische Streichquartett. Bei der letzten Staatsrechtslehrertagung habe ich die erste Variation erlebt. Da gab es zwei, drei Stücke Neue Musik. Aber das ist ja eigentlich noch elitärer und eurozentrischer. Ich habe noch nie auf einer juristischen Veranstaltung irgendeine eine Indie-Band gesehen, noch nicht mal eine Jazz-Combo. Es kommt erst recht keine Punkband, es kommt auch kein Rapper. Das passiert einfach nicht. Es ist immer klassische Musik, es ist immer europäische Musik.

Oder versuchen Sie mal auf der Staatsrechtslehrertagung oder überhaupt auf einer Tagung ein Frikadellenbrötchen zu bekommen oder einen Halloumi-Käse. Aber es gibt eben diese Häppchen, diese Canapés. Versuchen Sie mal ein Bier zu bekommen auf der Staatsrechtslehrertagung. Als wäre es ein Naturgesetz, gibt es Wein. Bier ist proletarisch. Es wird Weißwein getrunken, es wird Rotwein getrunken. Vielleicht noch so ein Prosecco als Auftakt. Wahlweise mit oder ohne Orangensaft.

Musik, Essen, Getränke, Kleidung, das sind ganz klare Signale. Indikatoren, die natürlich nicht einfach so da sind, sondern die etwas ausdrücken sollen. Sie kommunizieren auch eine Distinktion, glaube ich.

Ein Kollege hat mir mal gesagt, er könne über Andeutungen kommunizieren. Wenn er auf die Staatsrechtslehrer- oder auf eine andere Tagung kommt, warum soll er irgendwie unsicher sein? Er hat die Leute um sich, die er um sich hat, seit er geboren ist und die so agieren wie alle Leute, die um ihn waren, seit er geboren ist. Er ist so sozialisiert, und zwar privat sozialisiert. Und im Wissenschaftssystem musste er sich nicht groß umsozialisieren, weil es eine starke Nähe gab zwischen der Sozialisation im Privaten, aus seinem Milieu und der Sozialisation oder dem Habitus, den Erwartungen, den Verhaltensweisen, den Praktiken in dem Milieu der Professor:innen oder der Rechtswissenschaft. Da musst du keine Anstrengungen unternehmen, um diese nicht vorhandene Sozialisation nachzuholen oder überhaupt einen Umgang damit zu finden. Wenn ich heute eine Mail schreibe an einen Professor, den ich nicht kenne oder manchmal selbst an Kollegen, dann frage ich meine Frau vorher, ob man das so schreiben kann, weil meine Frau aus einer bürgerlichen Dynastie kommt und ihr Großvater als Arzt selbst in der DDR eine Hausangestellte hatten.

JuWiss: Sie haben in ihrem Vortrag Bezug genommen auf Didier Eribon, Pierre Bourdieu, Annie Erneaux und Édouard Louis. Für manche Zuhörenden hat das Ihre Habituskritik gewiss gut illustriert, aber schließen diese Verweise nicht diejenigen aus, die besagte Autor:innen nicht kennen?

Hanschmann: Kurz habe ich drüber nachgedacht, als ich das erwähnt habe, ob das so ein bisschen so ist wie diese Vorträge mit dem obligatorischen Zitat von Aristoteles, Goethe oder Schiller oder irgendwem aus dem „Kanon“ abendländischer Denker und Dichter.

Ich habe kurz drüber nachgedacht, ob das so in die Richtung geht und habe das dann aber schnell wieder abgetan, ohne dass ich das jetzt zu Ende gedacht hätte. Natürlich schließt man Leute aus, wenn man Autor:innen nennt, bei denen man nicht voraussetzen kann, dass sie von allen gekannt werden. Das heißt ja, definitiv. Ich hätte dann erklären müssen, für was diese vier Autor:innen stehen und das hätte man plastischer machen müssen. Der andere Teil der Antwort, wäre zu sagen: Nehmt es doch als Anregung, es zu lesen. Andererseits hätte ich mich jetzt nicht hingesetzt und hätte gesagt: „Oh, jetzt lese ich mal Aristoteles!“; nur weil jemand den genannt hat. Aber klar, die Nennung von Texten, von Autor:innen, von Orten, auch von Aktivitäten wie einem Museums- oder Konzertbesuch hat immer etwas Inklusives und etwas Exklusives. Es ist es immer auch eine Distinktion, eine Unterscheidung von anderen. Kommt man da raus? Ich weiß es nicht. Entscheidend finde ich: macht die Nennung eines Zitats oder eines Namens Sinn in dem Vortrag oder Text, bekommt man dadurch eine zusätzliche Erkenntnis, wird etwas deutlicher oder klarer? Oder will der Äußernde lediglich seine Belesenheit und Intelligenz herauskehren.

JuWiss: Daran gleich anschließend: Gibt es so etwas wie einen Habitus der kritischen Rechtswissenschaft?

Hanschmann: Ein Habitus bildet sich über Sozialisation und gibt Erwartungen und Verhaltensregeln in bestimmten Kreisen, Gruppen oder Systemen vor. Insofern gibt es, glaube ich, auch erst mal insofern einen Habitus, dass man vielleicht gemeinsame Erfahrungen teilt, familiärer Art, biografischer Art, studiumsbezogener Art. Dazu gehört aber auch, dass man sich auf bestimmte Texte bezieht oder auf bestimmte Personen. Das bleibt nicht aus. Ich würde es aber dabei noch nicht belassen. Ich habe drüber nachgedacht, und das ist jetzt wieder eine persönliche Antwort, aber auch eine Beobachtung. Der kritische Habitus geht vielleicht manchmal über in eine übertriebene Antihaltung, weil man sich als eine mehr oder weniger marginalisierte Gruppe von wenigen begreift, die einer jedenfalls quantitativ größeren Gruppe gegenübersteht. Und das kann auch in den Habitus überschlagen, wenn man zum Beispiel versucht, zwanghaft anders zu sein. Das kann über Kleidung gehen. Grundsätzlich kleide ich mich, wie ich mich kleiden will und wie ich mich wohlfühle. Aber ich habe immer auch im Hinterkopf, dass das ein Anknüpfungspunkt für Thematisierung ist und das kann Zustimmung oder Ablehnung sein, aber es ist ein Thema. Dadurch wird die Kleiderfrage bei mir – ohne dass ich das will – auf die Ebene einer eher bewussten Entscheidung gehoben. Man kann auch sagen, dass die Art der Konversation vielleicht manchmal zwanghaft anders gehalten wird. Man ist schneller beim Du, es werden schneller persönliche Dinge ausgeplaudert. Deshalb würde ich schon sagen, dass es da habituelle Eigenheiten gibt in dieser eher diffusen und gar nicht genau bestimmbaren Gruppe kritischer Rechtswissenschaftler:innen in Deutschland.

JuWiss: Wenn wir noch mal zurückkommen. Ich habe mich gefragt, ob nicht eine gewisse Distinktion durch einen Habitus, also wie zum Beispiel Kleidung mit Geschmack, Ausdrucksweisen usw., nicht der Ernsthaftigkeit der Themen, die wir bearbeiten, dienlich sein kann, vielleicht vor allem in der Öffentlichkeit?

Hanschmann: Sie meinen Ernsthaftigkeit, die symbolisch kommuniziert wird? Das würde ich eher kritisch sehen. Also einmal kritisch aus einer soziologischen Perspektive. Nehmen Sie diese Anzüge. Anzug ist eine Uniform. Die Funktion ist es symbolisch zu sagen, die Person verschwindet hinter dem Anzug. Das kann man durch den Schlips auch noch mal sehr gut sehen, dass das zugeknöpft ist.

Wenn Sie diese Bilder sehen, wo alle Staatsrechtslehrer:innen abgebildet werden, das könnte auch ein Bataillon sein. Da verschwindet in dieser Uniformität, die der Anzug gewährleistet, das Subjekt. Und dann würde ich Ernsthaftigkeit in einem solchen Sinne kritisch sehen, weil das ja gerade ein Teil des Habitus innerhalb des juristischen Feldes ist: der Verweis auf so Dinge wie eine Haltung der Distanz, der Gleichgültigkeit, ein Ausblenden von Subjektivität, ein Ausblenden meiner individuellen politischen Ansichten, ein Lavieren hin zu Universalisierung, Objektivität, Neutralität. Das kommuniziert dann eben etwas, was man aus meiner Sicht eigentlich kritisieren müsste, nämlich dieses Unpersönliche, dass diejenigen, die das machen, frei sind von politischen oder ökonomischen Interessen, frei von subjektiven moralischen Vorstellungen, frei von individuellen politischen Ansichten oder Positionen. Diese Askese wird aufrechterhalten, sozusagen als Selbstbetrug, in dem Sinne, dass wir eben nicht Subjekt sind mit eigenen Ansichten. Das ist das Problematische an dieser Form der Distinktion über Kleidung oder über andere Dinge.

Und auf der anderen Seite kann es in bestimmten Situationen darum gehen, genau das strategisch zu nutzen. Aber das hat dann nicht rechtssystemimmanente Gründe, sondern die Gründe liegen außerhalb des Rechtssystems, etwa in der Frage medial mit erzeugter Vorstellungen von Jurist:innen und der Rezeption dessen, wie Jurist:innen in Medien auftreten und was sie dort sagen. Wenn man es positiver formulieren will: man kann das nutzbar machen zur Vermittlung von rechtswissenschaftlichen Inhalten an juristische Laien und die erwarten vielleicht ein gewisses Auftreten, damit das Gesagte dann auch ernst genommen wird. Aber ich weiß es nicht. Was würden Sie anziehen, wenn Sie ins Fernsehen müssten? Da mir bestimmte inhaltliche Positionen wichtig sind und ich zugleich davon ausgehe, dass das, was ein Jurist mit Hoodie im Fernsehen sagt, von den Zuschauer:innen für weniger überzeugend gehalten wird als die gleichen Sätze des Kollegen mit dunklem Anzug und Krawatte, entscheide ich mich für den Anzug und die Krawatte. Was würden Sie als Juristin in so einer Situation anziehen? Würden Sie drüber nachdenken?

JuWiss: Die Umstände, unter denen Sie sich damals fremd gefühlt haben, haben die sich verbessert?

Hanschmann: Ja, das glaube ich schon. Und zwar zum Positiven und schon in dem relativ kurzen Zeitraum, in dem ich das jetzt erlebe. Insbesondere wenn ich an Erzählungen meiner früheren Professor:innen in Frankfurt erinnere, wie mit Ilse Staff – das war die erste Frau im öffentlichen Recht, die Professorin war. Was sie und andere Professor:innen der Generation so erzählt haben, wie es früher auf der Staatsrechtslehrertagung war, da liegen im Vergleich zu heute Welten dazwischen. Und ich glaube insgesamt ist es heterogener geworden. Es ist politisch weniger verkrustet als in der alten Bundesrepublik. Auch die Internationalisierung hat zu einer starken Veränderung beigetragen und zwar sowohl thematisch, wissenschaftlich, aber auch was die Ausbildungsgänge angeht: dass viele auch in anderen Ländern mal was anderes gesehen haben, Erasmus oder Masterprogramme, ist ein wichtiger Einfluss. Und ich glaube, das kann ich nur noch aus der Distanz beobachten, dass etwa bei der JTÖR schon auch ein lockerer Umgang herrscht und die Sensibilität für bestimmte Themen größer ist.

Andererseits: Solange ich mich nur in meiner Bubble bewege, kenne ich niemanden, der etwa sagen würde, Feminismus müssen wir ablehnen oder da müssen wir nicht mehr drüber diskutieren. Das gilt selbst für andere Sachen. Es beginnen Diskussionen zu Critical Race-Theorien, postkolonialen Rechtstheorien oder sogar Critical Whiteness-Forschungen – gerade in der Zeitschrift für Rechtssoziologie wieder mit einem Aufsatz von Sué González Hauck.

Aber wenn man mal rausgeht aus seiner Blase, dann würde ich sagen, ist das Bild noch nicht so rosig. Also ich weiß nicht, an wie vielen juristischen Fakultäten in Deutschland, bei wie vielen Kollegen:innen im öffentlichen Recht man eine Offenheit für Texte zu Critical Whiteness-Forschung hat oder überhaupt ein Problembewusstsein für bestimmte Fragen. Das kann man sogar bei der Diskussion über Feminismus immer noch beobachten. Man darf auch nicht naiv sein. Bei den Themen geht es auch um Deutungshoheiten, um Forschungsgelder und natürlich auch um Stellen. Wenn Stellen mit Frauen besetzt werden, werden sie nicht mit Männern besetzt. Wenn auch abseits von Geschlecht die Hochschulrektorenkonferenz mit Geldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vollkommen zu Recht mehr „Vielfalt an deutschen Hochschulen“ fordert, die Anzahl der Lehrstühle in Deutschland aber gleich bleibt, ist doch klar, dass es zu einer Verknappung und daraus resultierenden Auseinandersetzungen kommen wird. Das Milieu, das jetzt hegemonial ist und dass die Stellen besetzt, wird das nicht kampflos aufgeben.

Es gibt eben nur eine bestimmte Anzahl von Stellen im System. Früher haben das die Männer unter sich aufgeteilt, jetzt müssen sich weiße Männer und weiße Frauen die Stellen unter sich aufteilen. Hochschulen werden massiv dafür kritisiert, wenn sie 9 % Frauen im Professorium haben. Und das erzeugt natürlich auf diejenigen, die vorher bei der Konkurrenz um Stellen allein waren, Druck. Und mittlerweile haben wir nicht nur Frauen, jetzt kommen auch noch z.B. Menschen mit einer Migrationsgeschichte, die sagen: Wir wollen hier aber auch mitspielen.

Insgesamt kann man sagen: Ich glaube, es wird besser und der Druck wird höher. Sie als Jüngere haben eine größere Diversität und haben eine gewisse Offenheit für diese Themen. Man kann das nicht ignorieren oder abtun. Man sollte aber gerade in der jetzigen politischen Situation nicht naiv sein und glauben, dass das kampflos vonstatten geht. Es gibt kaum Professor:innen in der deutschen Rechtswissenschaft, die etwa einen Migrationshintergrund haben. Dasselbe gilt, wenn auch vielleicht nicht ganz so wenig, für Menschen mit Behinderungen. Das bedeutet aber auch, dass es keine oder kaum Role Models gibt. Role Models sind aber ein ganz entscheidender Faktor, der junge Menschen ermutigt, sich diese oder jene Karriere zuzutrauen. Eine Professorin im Verwaltungsrecht, ein Richter mit Sehbehinderung, ein Staatsanwalt, der als Kind aus Somalia nach Deutschland geflüchtet ist, oder eine Transperson als Rechtsanwält:in.

JuWiss: Wenn Sie 20 Jahre in die Zukunft schauen, was für Veränderungen in der deutschen Rechtswissenschaft wünschen Sie sich?

Hanschmann: Das ist die einfachste und zugleich vielleicht die schwierigste Frage. Ich wünsche mir eine Rechtswissenschaft, die in jedem Bereich, also in allen Tätigkeitsbereichen, aber auch in der Studierendenschaft, so heterogen, so divers, so pluralistisch ist wie die Gesellschaft. Also, dass sie quasi ein Spiegelbild der Gesellschaft ist mit allen unterschiedlichen Herkünften, Eigenschaften, Behinderungen oder Beeinträchtigungen und mit allem sonst. In der Rechtswissenschaft soll es alles geben, was sich auch in Deutschland wiederfindet. Die Frage, ob man da hinkommt, wo man hinkommen will, ob man etwa Anwältin oder Richter werden will oder Professorin, sollte nicht von Kriterien abhängen, die nichts mit dem Fach und mit den Leistungen oder den Kompetenzen zu tun haben, die da eine Rolle spielen.

Ich wünsche mir außerdem eine Rechtswissenschaft, die endlich verstanden hat, bei allen Unterschieden in den einzelnen subjektiven Positionen, dass sie das, was sie tut, gesellschaftlich kontextualisieren muss, dass sie sich für die gesellschaftliche Bedeutung und Wirkungen ihres Gegenstandes interessieren muss und dass sie vor allen Dingen begreifen muss, dass sie deshalb auch politisch sein muss. Das hätte sie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und in der Geschichte der DDR gemusst. Und sie muss es gerade derzeit mit den Gefahren von rechts wieder. Ich hoffe, dass sie das erste Mal nicht versagt. Dafür müssen wir Jurist:innen aber verstehen, dass das, was wir tun, politisch ist und dass man eine politische Haltung entwickeln muss. Dass wir uns mit dem, was wir machen, egal in welchem Bereich juristischen Arbeitens, der massiven Gefahr von rechts, die im Moment in Deutschland, in der Europäischen Union und in anderen Staaten der Welt droht, entgegenstellen müssen. Das geht nicht, wenn wir glauben, dass wir neutral sind, dass wir politisch distanziert sind, dass wir keine eigenen Standpunkte haben. Natürlich können wir unsere eigenen Meinungen und Positionen nicht ungefiltert in unsere juristische Arbeit einfließen lassen. Dann würden wir das Recht verraten. Aber wir müssen das Grundgesetz und die Menschenrechte gegen Angriffe verteidigen.

Das würde ich mir wünschen.

Sonst sind wir nämlich, glaube ich, alle irgendwann nicht mehr in den Positionen, in denen wir jetzt sind oder in die man hineinkommen möchte. Und zwar unabhängig davon, ob das über Richterwahlausschüsse läuft, die von Vertreter:innen der AfD dominiert werden, ob man in einem Ministerium angestellt wird als Juristin, wie man als Anwalt auftreten kann oder welche Rechte man noch hat, um Angeklagte zu verteidigen.

 

 

Zitiervorschlag: Amhaouach-Lares, Lamia/Würkert, Felix, Zehn Fragen an… Professor Dr. Hanschmann zu Habitus und Fremdheitsgefühlen in der Rechtswissenschaft, JuWissBlog Nr. 50/2023 v. 17.08.2023, https://www.juwiss.de/50-2023/

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Diversität, Habitus, Hanschmann, JTOER 2023, Rechtskritik
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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Thorsten Kingreen
    17. August 2023 17:23

    Ein ausgesprochen sympathisches Interview. Ich finde mich in Vielem wieder. Meine erste Assistententagung in München 1997 fand ich in Teilen so abgehoben und elitär, dass ich zur nächsten Tagung in Münster nur noch gegangen bin, weil ich Mitveranstalter war.

    Nur der Staatsrechtslehrervereinigung wird in zwei Punkten Unrecht getan: Die Krawatte ist kein Zwang mehr, und es gibt seit ein paar Jahren auch Bier, jedenfalls wenn man aktiv fragt. Wenn man dann mit dem Bier durch den abendlichen Empfang flaniert, lernt man sogar Kolleg:innen kennen, mit denen man noch nie ein Wort gewechselt hat: „Wo haben Sie das denn her?“ In Bonn (ausgerechnet Bonn!) wurde wegen Gläserknappheit sogar aus der Flasche getrunken. Ich bin daher optimistisch, im Oktober in Bochum ein Bier von Moritz Fiege durch die Kehle laufen lassen zu können, die nicht durch einen Krawattenknoten verschnürt ist. Herzliche Grüße Thorsten Kingreen

    Antworten
  • Frank Schorkopf
    18. August 2023 09:41

    Der Habitus des Rebellen – vermutlich hat Kollege Hanschmann aus all diesen Gründen einen Ruf an die privat finanzierte, hochselektive Bucerius Law School angenommen. Teilnehmende Beobachtung mit allen Annehmlichkeiten.

    Antworten
  • „Ziemlich überwiegend männlich“ ist zumindest für die Justiz nicht mehr zutreffend. Dort gibt es nach meiner Einschätzung in speziellen Zweigen zwischenzeitlich sogar ein deutliches Übergewicht des weiblichen Geschlechts. Das mag sich zwar derzeit noch nicht bis in alle Führungspositionen durchgesetzt haben, was aber nur eine Frage der Zeit sein dürfte.

    Antworten
  • Marie Diekmann
    18. August 2023 12:39

    @Frank Schorkopf: Verständlich, dass Sie sich angesprochen fühlen.

    Antworten

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