von YANNIK HOFMANN
Ihr Dienstvergehen lässt sich mit wenigen Worten wiedergeben. Eine Bataillonskommandeurin der Bundeswehr schreibt auf ihrem Tinder-Profil: „Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome.“ Nach Ansicht des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts stellt dies eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht dar, da die Worte „aus der Sicht eines verständigen Betrachters“ Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität erwecken würden. Verhaltensweisen zu moralisieren und daraus charakterliche Mängel abzuleiten, ist jedoch Aufgabe des Strafrechts und nicht der Arbeitgeberin.
Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis beschäftigt sind, haben gegenüber ihren Dienstherren unterschiedlich ausgeprägte Dienstpflichten. Hierzu gehört die sogenannte Wohlverhaltenspflicht, die sowohl innerdienstlich als auch außerdienstlich besteht und deren Verletzung disziplinarrechtlich geahndet werden kann. Außerhalb des Dienstes müssen sich Soldat*innen so verhalten, dass sie das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die ihre dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigen (§ 17 Abs. 2 S. 3 SG). Die Wohlverhaltenspflicht ist dabei amtsbezogen, weshalb an Führungskräfte höhere Verhaltensanforderungen gestellt werden dürfen.
Der gute Ruf der Bundeswehr
Hinsichtlich des Bewertungsmaßstabs ist die vorgeworfene Verhaltensweise zunächst dem dienstlichen Bereich (dann findet § 17 Abs. 2 S. 1 SG Anwendung) oder dem außerdienstlichen Bereich zuzuordnen (dann § 17 Abs. 2 S. 3 SG). Da die Soldatin in ihrer Freizeit und außerhalb der dienstlichen Unterkünfte tinderte, ist die Veröffentlichung des Profiltextes auf dem Dating-Portal unproblematisch dem außerdienstlichen Bereich zuzuordnen. Ungleich spannender ist die Frage, ob diese Verhaltensweise das Ansehen der Bundeswehr oder die für ihren Dienst erforderliche Achtung und das Vertrauen ernsthaft beeinträchtigt. Eine Beeinträchtigung liegt nur dann vor, wenn die betroffene Soldatin als Repräsentantin der Bundeswehr anzusehen ist und ihr Verhalten negative Rückschlüsse auf die Ausbildung, moralische Integrität und Dienstauffassung sowie Disziplin der Truppe zulässt. Grundsätzlich ist das private Fehlverhalten von Soldat*innen nicht der Bundeswehr als Institution zuzurechnen, es sei denn, dass außergewöhnliche Umstände dazu zwangsläufig Anlass geben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es nicht darauf an, ob eine ernsthafte Beeinträchtigung der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit tatsächlich eingetreten ist, sondern nur darauf, ob das angeschuldigte Verhalten dazu geeignet war.
Dass die betroffene Soldatin als Repräsentantin der Bundeswehr anzusehen ist, lässt sich kaum bestreiten: Vor allem die Bundeswehr selbst wirbt mit ihr als „erste Transgender-Kommandeurin der Bundeswehr“, um sich als Arbeitgeberin darzustellen, die nicht nur formal die „Charta der Vielfalt“ unterschrieben hat, sondern Diversität auch tatsächlich lebt. Um diesem Selbstverständnis der Vielfalt ein Gesicht zu geben, nutzt die Bundeswehr daher gerne das der betroffenen Soldatin. Ob ein Verhalten geeignet ist, die Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit der Soldatin ernsthaft zu beeinträchtigen, bedarf immer einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls. Die Bewertung hat dabei zunächst anhand des Gesetzeszwecks zu erfolgen. Die einschlägigen Normen des Soldatengesetzes dienen der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, die verfassungsrechtlichen Rang haben (BVerfG). Dagegen ist es nicht Zweck der Vorschrift, die Soldatin für jedes Fehlverhalten im privaten Bereich zur Verantwortung zu ziehen. Denn im Vergleich zu innerdienstlichem Verhalten hat der Gesetzgeber mit der Einschränkung „ernsthaft“ (§ 17 Abs. 2 S. 3 SG) die Anforderungen an das außerdienstliche Verhalten herabgesetzt (BVerwG).
Eindruck eines wahllosen Sexuallebens
Die betroffene Soldatin suchte auf dem Dating-Portal Tinder nach Sexualkontakten. Damit war sie im hier relevanten Jahr 2019 eine von 9,3 Millionen Menschen in Deutschland, die Dating Services nutzten (Statista), wobei die Plattform Tinder zu den beliebtesten Anbieterinnen in Deutschland zählt (Statista). Sicherlich suchen nicht alle Nutzer*innen von Dating-Plattformen dort (ausschließlich) Sex, ungewöhnlich ist dies allerdings ebenso wenig. Mit der Beschreibung „offene Beziehung auf der Suche nach Sex“ machte die Soldatin deutlich, dass sie eine offene, d.h. nicht monogame Beziehung führt. Damit mag sie zwar zu einer Minderheit der in Deutschland lebenden Menschen zählen, die sich eine solche Beziehungsform vorstellen können oder diese leben. Allerdings ist diese Gruppe mit einem Anteil von 15% auch keine Randerscheinung fernab jeglicher Lebensrealität (Statista). „Spontan, lustvoll, trans*“ ist eine Selbstbeschreibung, die nicht notwendigerweise sexuell konnotiert gelesen werden muss. In dem Kontext einer Dating-Plattform kann es bedeuten, dass die Soldatin zu spontanen Treffen bereit ist und diese (sexuellen) Treffen als sinnlich erfüllend empfindet. Die Bezeichnung „trans*“ weist wiederum auf ihre Geschlechtsidentität hin, mithin dass ihr bei ihrer Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, sie sich jedoch als Frau identifiziert. Der Satz „all genders welcome“ lässt zuletzt den Rückschluss zu, dass dem sozialen Geschlecht bei der Wahl ihrer Sexualpartner*innen kein entscheidungserhebliches Gewicht zukommt. Für die Bataillonskommandeurin spielt es also keine Rolle, ob die Geschlechtsidentität ihrer Sexualpartner*innen mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde oder nicht. Im Übrigen stellt sich die Verhaltensweise als reine Absichtserklärung dar, denn Gegenstand der Anschuldigung ist lediglich der nach außen erkennbare Wille, Sex haben zu wollen, nicht die sexuelle Handlung selbst. Wer also den „Eindruck eines wahllosen Sexuallebens“ (s.u.) zum Gegenstand der Anschuldigung machen will, muss notwendigerweise unterstellen, dass aus dieser Absichtserklärung auch unmittelbar („wahllos“) sexuelle Handlungen folgen.
Bewertungsgrundlage charakterlicher Integrität
Dem 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts zufolge erwecken die Worte „offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome“ aus Sicht eines verständigen Betrachters, hier: der fünf Richter*innen des 2. Wehrdienstsenats, Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität der Soldatin. Denn eine Soldatin müsse insbesondere in der besonders hervorgehobenen dienstlichen Stellung einer Bataillonskommandeurin Formulierungen vermeiden, „die den falschen Eindruck eines wahllosen Sexuallebens und eines erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität erwecken“ (BVerwG, Pressemitteilung vom 25. Mai 2022). Dabei erweist sich bereits der Begriff der „charakterlichen Integrität“ als derart offen und vage, dass dessen Geeignetheit zur Rechtfertigung einer Dienstpflichtverletzung jedenfalls begründungsbedürftig ist. Will man mit der Rechtsprechung für die Bewertung des Charakters moralische Maßstäbe („moralische Integrität“) zu Grunde legen, stellt sich unmittelbar die Frage, nach welcher (Sexual-)Ethik eine Verhaltensweise moralisch bewerten werden soll. Gegenstand der Betrachtung kann hier nicht die sexuelle Orientierung sein, denn diese ergibt sich nicht aus dem zitierten Profiltext. Er lässt lediglich einen Rückschluss auf die Anzahl der theoretisch möglichen (!) Sexualpartner*innen und die nicht monogame Beziehungsform zu. Beurteilungsgegenstand ist also die Absichtserklärung, mit mehreren Menschen (nicht notwendigerweise gleichzeitig) Sex zur Lustbefriedigung auszuüben.
Wahl der maßgeblichen Ethik
Befragt man hierzu das Christentum, lehnen praktisch alle katholischen, evangelischen und orthodox-christlichen Kirchen sexuelle Handlungen eines Ehepartners mit einer dritten Person („Ehebruch“) und sexuelle Kontakte mit relativ häufig wechselnden Partner*innen oder parallel mit mehreren Partner*innen („Promiskuität“) ab. Insofern dürfte auch die Absichtserklärung hierzu bereits als unmoralisch gelten und einen charakterlichen Mangel darstellen. Die Deontologie und ihr wohl bekanntester Vertreter Kant bewerten eine Verhaltensweise danach, ob sie aus Pflicht oder aus Neigung begangen wird. Folgt eine Handlung allein den „natürlichen“ Wünschen und Bedürfnissen eines Menschen (Neigungen), ist ihr kein moralischer Wert beizumessen. Sex zur Befriedigung der eigenen Lustbedürfnisse auszuüben, stellt sich demzufolge als Neigung im Sinne Kants dar und hat daher keinen moralischen Wert. Dagegen ist für den Utilitarismus (Bentham und Mill) eine Handlung dann moralisch richtig, wenn sie die Summe des Wohlergehens (Glück) aller Betroffenen maximiert. Danach ist Sex zur Lustbefriedigung moralisch gut, wenn er auf gegenseitiger Übereinstimmung beruht und alle Partner*innen ihren persönlichen Gewinn daraus ziehen. Die unterschiedlichen Ergebnisse zeigen, dass Verhaltensweisen nicht mit einem simplen Hinweis auf Moral bewerten werden können.
Gelebte Vielfalt und Selbstverpflichtung
Wer also Handlungen moralisch bewerten und hieraus Charaktereigenschaften ableiten will, muss sich denknotwendig für eine Ethik entscheiden und dies begründen (die vorgenannte Darstellung ist freilich nicht abschließend). Man könnte allerdings auch darauf abstellen, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung enthält und die freie Wahl der Sexualpartner*innen sowie die Suche nach ihnen im Internet (Sozialsphäre) einschließt. Die rechtliche Bewertung dieser Handlungen muss dagegen dem Strafrecht vorbehalten sein, denn es ist nicht Aufgabe des Staates – insbesondere nicht, wenn er als Arbeitgeberin auftritt – das Verhalten seiner Bürger*innen und Bediensteten moralisch zu bewerten. Dazu mangelt es schlicht an einer Rechtsgrundlage, die die Inkorporation einer bestimmten Ethik zulässt. Solange außerdienstliches Verhalten Bestandteil der Dienstpflichten sein soll, kann sich die Dienstherrin nicht einerseits bestimmte Werte zu Eigen machen (Anerkennung jeder sexuellen Orientierung und aller sexuellen Identitäten) und lediglich eine bestimmte Form der Ausübung (monogame Beziehung) billigen. Denn die einseitige Vorgabe, auf welche Art nach Sexualpartner*innen gesucht werden darf, widerspricht der Idee von gelebter Vielfalt.
Zitiervorschlag: Yannik Hofmann, Spontan, lustvoll, trans* – Die Suche nach Sex als Dienstpflichtverletzung, JuWissBlog Nr. 29/2022 v. 02.06.2022, https://www.juwiss.de/29-2022/.
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