von MARTIN LEIßING
Der sicher geglaubte Studienplatz für (Zahn-)Medizin – weg! So erging es vielen Bewerberinnen und Bewerbern, deren Zulassungsbescheid durch die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. zurückgenommen wurde. Ein Übertragungsfehler bei der Angabe der Zahl der Studienplätze sei schuld gewesen. Eine weit mehr als nur unangenehme Situation für die Betroffenen. Dieser Beitrag versucht, die verfahrene Situation in ihrer rechtlichen Dimension darzustellen und zeigt auf, was im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Rücknahmeentscheidung und die Relevanz des Vertrauens auf die Zulassung zu berücksichtigen ist.
Es war die sprichwörtliche „bittere Pille“ für 282 Personen, die sich selbst schon als Studentinnen und Studenten der Human- bzw. Zahnmedizin wähnten. An der Goethe-Universität Frankfurt wurden nämlich 703 Zulassungen für Studienplätze in diesen Fächern versendet – bei nur 421 zur Verfügung stehenden Studienplätzen. Frust und Unverständnis sind, wenig überraschend, groß. Die „überzählig“ Zugelassenen erhielten ein Schreiben der Universität, mit welchem ihr Zulassungsbescheid zurückgenommen wurde. Wenig verwunderlich haben erste Betroffene – neben politischem Druck über einer Petition, welche bereits fast 50.000 Unterzeichnungen zählt – angekündigt, gegen die Bescheide rechtlich vorgehen zu wollen. Soweit dies auf Grundlage der öffentlich publik gewordenen Informationen möglich ist, soll im Nachfolgenden die Rechtmäßigkeit der Massenrücknahmen untersucht werden (I.). Darüber hinaus wird in den Blick genommen, wie sich die Situation für diejenigen darstellt, die im Vertrauen auf den Erhalt des Studienplatzes bereits (Vermögens‑)Dispositionen getroffen haben (II.).
I. Rechtmäßigkeit der Bescheidrücknahme
Die Zulassung für Studienplätze der Medizin richtet sich insbesondere nach dem Staatsvertrag über die Hochschulzulassung, darüber hinaus nach der Hessischen Hochschulzulassungsverordnung (HHZV). Ergänzende Regelungen enthält auch das Hessische Hochschulzulassungsgesetz (HHZG) Der Staatsvertrag sieht in Art. 11 Abs. 1, 2 vor, dass die Zuteilung von Studienplätzen durch den Erlass von Zulassungsbescheiden erfolgt. Nach Art. 11 Abs. 6 S. 1 1. Halbsatz des Vertrags „wird“ der Zulassungsbescheid zurückgenommen, soweit dieser auf falschen Angaben im Zulassungsantrag beruht. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor: Die „Angaben“ beziehen sich erkennbar nur auf solche, die von Bewerberinnen und Bewerbern getätigt werden (vgl. VG Gelsenkirchen Rn. 22). Für die Fälle sonstiger Fehlerhaftigkeit ist Rechtsgrundlage Art. 11 Abs. 6 S. 1 2. Halbsatz, welcher normiert, dass der Zulassungsbescheid zurückgenommen werden „kann“. Tatbestandlich bedarf es einer „Fehlerhaftigkeit“ des Bescheids. Hier liegt der Fehler zwar nicht im Bescheid selbst. Da sich der Bescheid erkennbar auf einen konkreten, im Rahmen der Kapazität liegenden Platz erstreckt, schlägt eine fehlerhafte Zulassungszahl allerdings unmittelbar auf den Bescheid durch und bedingt so die Fehlerhaftigkeit des Bescheids, soweit der Platz tatsächlich außerhalb der Kapazität liegt.
Doch waren die Zulassungszahlen „fehlerhaft“? Für die Berechnung von Zulassungszahlen gilt Art. 6 des Staatsvertrags i.V.m. der jeweiligen landesrechtlichen Kapazitätsverordnung (KapVO Hessen). Im Fall der Goethe-Universität ist allerdings die Berechnung zutreffend erfolgt. Die nach § 2 Abs. 1 S. 2 HHZG maßgebliche Satzung der Goethe-Universität weist in § 1 Ziff. 1 381 Erstsemesterplätze für den Studiengang „Medizin Staatsexamen“ aus; beim Studiengang „Zahnmedizin“ sind 40 Plätzen vermerkt. Die Hochschule gibt an, dass das Problem durch einen „Übertragungsfehler“ ausgelöst worden sei. Rechtlich ausschlaggebend ist die in der Satzung genannte Zahl, nicht diejenige, die an die Stiftung für Hochschulzulassung übermittelt wurde. Da für das Zulassungsverfahren daher tatsächlich fehlerhafte – weil nicht mit den rechtlich festgesetzten Werten übereinstimmende – Zahlen verwendet wurden, sind die hierauf beruhenden Zulassungsbescheide insoweit tatsächlich „fehlerhaft“ i.S.d. Art. 11 Abs. 6 S. 1 2. Halbsatz des Staatsvertrags.
Eine Berücksichtigung des Vertrauensschutzes ist in der Norm auf Tatbestandsebene, ähnlich wie in § 48 Abs. 3 HVwVfG, nicht vorgesehen. Allerdings ist auf Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen, dass hinsichtlich der Rücknahme ein Ermessen der Behörde besteht. Inwieweit die Behörde (tragfähige) Ermessenserwägungen angestellt hat, lässt sich ohne Kenntnis des konkreten Bescheids nicht beurteilen. Vor dem Hintergrund, dass die Kapazitätsgrenzen so festzulegen sind, dass „eine erschöpfende Nutzung der Ausbildungskapazitäten erreicht wird“ (Art. 6 Abs. 2 S. 1 des Staatsvertrags), dürfte eine unbesehene Zulassung all derer, die nun fälschlicherweise eine Zulassung erhalten haben, nicht möglich sein. Dies wäre nur bei einer kurzfristigen Aufstockung der Kapazitäten denkbar – dieser Lösung erteilte die Universität eine Absage. Ob politischer Druck hier zu einer anderen Bewertung führen kann, erscheint fraglich. Zwar ist der Vertrauensschutz (näher dazu sogleich) auch auf Ermessensebene zu berücksichtigen (BVerwG Rn. 27). Ein Überwiegen wird allerdings ob der drohenden negativen Auswirkungen auf die universitäre Ausbildung wohl nur in Ausnahmefällen festgestellt werden können. Jedenfalls müsste sich für die Rücknahme auf die konkreten Rangplätze der Zugelassenen abgestellt werden; nur diejenigen, die tatsächlich über Platz 381 bzw. 40 liegen können von der Rücknahme betroffen sein. Anderenfalls dürfte ein Zulassungsanspruch bestehen (VGH BW Rn. 28).
Es ist daher für den Regelfall davon auszugehen, dass die Rücknahme der Bescheide für die „überzähligen“ Bewerberinnen und Bewerber rechtmäßig erfolgte.
II. Wo bleibt der Vertrauensschutz?
Sollte die Rechtmäßigkeit in Widerspruchs- und eventuellen Klageverfahren bestätigt werden, so wäre dies für die Betroffenen selbstverständlich ein herber Schlag. Doch schutzlos gestellt sind sie nicht: Wenngleich Art. 11 Abs. 6 des Staatsvertrags keine entsprechende Regelung enthält, ist § 48 Abs. 3 HVwVfG (ggf. analog) auf die Rücknahme der Zulassungsbescheide anzuwenden. Danach ist dem Betroffenen auf Antrag der Vermögensnachteil auszugleichen, „den dieser dadurch erleidet, dass er auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat, soweit sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse schutzwürdig ist“.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Ausschlussgrund des § 48 Abs. 3 S. 2 i.V.m. Abs. 2 S. 3 Nr. 3 HVwVfG nicht in Ansatz gebracht werden kann. Danach kann sich nicht auf Vertrauen berufen, wer die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Zwar waren die tatsächlichen, von den übermittelten Werten abweichenden Zahlen in der Satzung der Universität zu finden. Allerdings wäre der Vorwurf grober Fahrlässigkeit geradezu absurd – vielmehr ist im Gegenteil regelmäßig darauf zu vertrauen, dass derart gravierende Fehler einer Hochschule nicht unterlaufen. Es kommt für die Frage des Vertrauensschutzes also auf eine Abwägung an. Auf Seiten der Betroffenen können verschiedene Punkte geltend gemacht werden: So wurden, wie Medienberichten (etwa hier, hier oder hier) zu entnehmen ist, Angebote anderer Universitäten ausgeschlagen, Anstellungen und Mietverträge gekündigt oder Flugtickets gekauft um zum Studienstart in Deutschland zu sein. Vor dem Hintergrund, dass mit Erhalt des Zulassungsbescheides der Studienplatz als sicher galt, waren all dies auch nachvollziehbare und kausal durch die Zulassung bedingte Betätigungen, welche das Vertrauen im absoluten Gros der Fälle als schutzwürdig erscheinen lassen. Dies gilt umso mehr, als dass die in § 48 Abs. 2 S. 2 HVwVfG genannten Regelbeispiele i.R.d. § 48 Abs. 3 HVwVfG ebenfalls heranzuziehen sind (BVerwG Rn. 15).
Das entgegenstehende öffentliche Interesse ist begrenzt auf das rein fiskalische Interesse, den Verwaltungsakt ohne Vermögensausgleich zurücknehmen zu können (BVerwG Rn. 25). Bedenkt man, dass der Übertragungsfehler hier allein in die staatliche Sphäre fällt und es für die Betroffenen wohl nicht erkennbar war, dass sie nicht zu denjenigen gehörten, die auf einem „überzähligen“ Platz gelistet wurden, erscheint kaum begründbar, inwiefern das öffentliche Interesse vorliegend überwiegen sollte. Dass durch eine Vielzahl von Betroffenen ggf. hohe Zahlungsverpflichtungen auf den Staat zukommen, kann den Betroffenen nicht entgegengehalten werden – allein durch eine Schädigung vieler kann sich der Staat einer Entschädigungspflicht nicht entziehen. Auch falls sich doch noch eine Lösung ergibt, vermag dies die einmal entstandene Entschädigungspflicht nicht zu beseitigen.
Es spricht also viel dafür, dass die Betroffenen auf Antrag hin etwaige Vermögensschäden, die aus der Rücknahme ihrer Zulassung folgen, ersetzt bekommen, was auch politisch gefordert wird.
III. Fazit
Die vermeintlichen Studentinnen und Studenten der (Zahn-)Medizin stehen nach hier vertretener Auffassung rechtlich also nicht auf verlorenem Posten. Jedenfalls etwaige Schäden dürften durch den Staat auszugleichen sein. Wünschenswert wäre freilich, dass Politik und Hochschule sich darum bemühen, den Betroffenen langwierige Prozesse zu ersparen und sich nicht auf juristische Vabanquespiele einlassen, um möglicherweise vor Gericht doch noch in manchen Fällen Zahlungspflichten zu entgehen. Stattdessen sollten der Erklärung schneller und unbürokratischer Hilfe zügig Taten folgen. Ob der Weg über das Koordinierte Nachrücken (vgl. hier und hier) eine Lösung bietet, wird sich noch zeigen.
Zitiervorschlag: Leißing, Martin, Studienplatz adé?! – Zur Rücknahme von Studienplatzzulassungen durch die Uni Frankfurt, JuWissBlog Nr. 53/2022 v. 03.09.2022, https://www.juwiss.de/53-2022/.
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