Fehlende Bildungsgerechtigkeit im Einkommensteuerrecht

Tim Maciejewski

Von TIM MACIEJEWSKI

Der Bildungserfolg einer Person ist in Deutschland deutlich stärker von ihrem sozioökonomischen Hintergrund abhängig als in anderen Industriestaaten. Diese Ungerechtigkeit wird auch durch die einkommensteuerrechtlichen Regelungen zur Abziehbarkeit von Berufsausbildungskosten begünstigt, deren Verfassungskonformität der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit einem aktuellen Beschluss bestätigt hat. Während die Begründung des Senats den Anschein erweckt, die geltende Rechtslage begrenze den steuerlichen Abzug nur für besonders kostenintensive Ausbildungsgänge, werden tatsächlich vor allem Studierende mit niedrigem Einkommen benachteiligt.

In Deutschland sind Bildungserfolge überdurchschnittlich stark eine Frage des Elternhauses: Je gebildeter und damit in der Regel auch wohlhabender die Eltern eines Kindes sind, desto besser sind dessen Chancen, selbst einen höheren Bildungsabschluss und die damit regelmäßig verbundene abgesicherte wirtschaftliche Stellung zu erreichen. Nur etwa 14 % der Personen, die einen tertiären Bildungsabschluss erlangen (also insbesondere ein Hochschulstudium abschließen), haben keine Eltern, die über einen entsprechenden Abschluss verfügen. Dieser Wert ist generationenübergreifend konstant. Anders als im Schnitt der anderen OECD-Staaten stagniert Deutschland bei der Bildungsmobilität nach oben. Dies hat auch steuerrechtliche Gründe.

Selektive steuerrechtliche Bildungsförderung de lege lata

Wenn Ausbildungskosten steuerlich geltend gemacht werden können und es dadurch zu einer Erstattung von ansonsten geschuldeten Einkommensteuern kommt, beteiligt sich bei wirtschaftlicher Betrachtung die Allgemeinheit an der Finanzierung der Ausbildung. Je höher der persönliche Steuersatz ist, desto höher fällt dieser steuerliche „Zuschuss“ aus.

Nach der geltenden Rechtslage können die Kosten einer erstmaligen Berufsausbildung grundsätzlich nur eingeschränkt steuerlich geltend gemacht werden (§ 4 Abs. 9 EStG, § 9 Abs. 6 EStG). Dies gilt insbesondere für die Kosten eines unmittelbar nach dem Abitur aufgenommenen Universitätsstudiums bis zum ersten Abschluss (z.B. ). Als Sonderausgaben mindern sie die steuerliche Bemessungsgrundlage nur im Jahr der Zahlung und auch dann nur beschränkt auf einen Maximalbetrag von 6.000 € pro Jahr (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG). Die Kosten weiterer Ausbildungsabschnitte (beispielsweise eines Zweitstudiums oder einer Promotion) sind hingegen Betriebsausgaben oder Werbungskosten. Sie können bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens unbeschränkt abgezogen werden. Soweit sie die steuerpflichtigen Einnahmen im Jahr der Zahlung übersteigen, können sie zudem in zukünftige Jahre vorgetragen werden (§ 10d EStG).

Diese Rechtslage begünstigt zum einen die relativ kleine Gruppe der Studierenden, die bereits während des Studiums Einkünfte oberhalb des Grundfreibetrags erzielen. Da Studierende neben einem Vollzeitstudium selten auch noch in größerem Umfang selbständig oder nichtselbständig tätig sein können, sind dies insbesondere Personen, die von ihren Eltern andere Einkunftsquellen (ggfs. über einen Zuwendungsnießbrauch nur zeitweise) übertragen bekommen haben. Die Überschüsse aus diesen Einkunftsquellen (z.B. Bachelor) vermietete Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen) können dann um die Kosten des Studiums gemindert werden (bis zum ersten Studienabschluss begrenzt auf 6.000 € pro Jahr).

Zum anderen profitieren Studierende, die nach einem Bachelorstudium noch einen oder mehrere Masterstudiengänge und/oder eine Promotion abschließen. Wenn sie während dieser Zeit keine eigenen Einkünfte erzielen (insbesondere, weil sie von ihren Eltern finanziell unterstützt werden), werden die Kosten vorgetragen und führen zu einer Steuererstattung nach dem Berufseinstieg.

Wegen des progressiven Einkommensteuertarifs gilt für beide begünstigten Gruppen: Je höher die erzielten Einkünfte sind, desto höher fällt auch die prozentuale Beteiligung der Allgemeinheit an den Studienkosten in Form einer Steuererstattung aus. Studierende, die ihr Studium durch (regelmäßig vergleichsweise niedrige) Einkünfte aus einer nichtselbständigen Nebentätigkeit, BAFöG-Leistungen oder Stipendien finanzieren, zahlen hingegen in der Regel während des Studiums ohnehin keine Steuern, sodass der für die Kosten der Erstausbildung gewährte Sonderausgabenabzug regelmäßig ins Leere läuft. Ein Vortrag der Kosten in die Zeit nach Abschluss des Studiums ist nicht möglich. Während des Zweitstudiums zehren niedrige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (außerhalb eines Minijobs) die vortragsfähigen Aufwendungen auf, ohne dass sich ein Steuervorteil ergibt. Das Steuerrecht begünstigt damit de lege lata vor allem Kinder aus wohlhabenderen Familien und trägt damit zur fehlenden Chancengleichheit bei der tertiären Bildung bei.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Vor diesem Hintergrund verdienen die – auch im Übrigen nicht vollends überzeugenden – Ausführungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss zur Verfassungskonformität der geltenden Rechtslage Kritik:

Schon die Argumentation zur verfassungsrechtlichen Maßstabbildung ist nicht zweifelsfrei. Der Senat begründet die fehlende objektiv berufsregelnde Tendenz der Regelungen (aus der das bloße Willkürverbot als Maßstab für die Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG folgt) damit, dass die Möglichkeit eines Vortrags von Ausbildungskosten in zukünftige Veranlagungszeiträume für die Finanzierung dieser Ausbildung allenfalls von untergeordneter Bedeutung sei (Rn. 121). Der Vortrag der Ausbildungskosten führt aber häufig in einem späteren Jahr zu einer Steuererstattung. Fehlt eine solche Vortragsmöglichkeit – wie de lege lata bei einem Universitätsstudium unmittelbar nach dem Abitur – so können die sich daraus ergebenden höheren Gesamtkosten der Ausbildung durchaus abschreckend wirken und mithin die Wahl des Ausbildungswegs beeinflussen.

Aber auch wenn man den grundsätzlichen Maßstab eines bloßen Willkürverbots akzeptiert und mit dem Senat annimmt, dass Erstausbildungskosten wegen ihrer privaten Mitveranlassung und der regelmäßig bestehenden Unterhaltspflicht der Eltern grundsätzlich den Sonderausgaben zugeordnet werden können, wirft die weitere Argumentation Fragen auf. Wenn der Senat ausführt, dass der Höchstbetrag von 6.000 € auch im Lichte von Art. 12 GG (vgl. zum Maßstab Rn. 114, 147) nicht zu beanstanden sei, weil er in den meisten Fällen die jährlichen Kosten einer Erstausbildung realitätsgerecht abbilde (Rn. 148), so mag dies zwar bei isoliertem Blick auf den Betrag zutreffend sein. Der Sonderausgabenabzug läuft aber für viele Studierende faktisch leer, sodass deren durch die Studienkosten verminderte steuerliche Leistungsfähigkeit im Ergebnis keine Berücksichtigung findet.

Aus demselben Grund ist auch die These, Art. 12 GG gebiete jedenfalls keine unbegrenzte steuerliche Entlastung auf Kosten der Allgemeinheit für besonders kostspielige Erstausbildungen (Rn. 149), nicht zielführend: Kostenintensiv werden Ausbildungen regelmäßig durch Gebühren der (privaten) Bildungsinstitutionen. Die Zahlung solcher Gebühren kann aber häufig durch Finanzierungsmodelle wie umgekehrte Generationenverträge in den Zeitraum der beruflichen Tätigkeit verlagert werden. Dann erlaubt die geltende Rechtslage die (auf 6.000 € jährlich begrenzte) steuerliche Verrechnung dieser Kosten mit laufenden Einnahmen, während gerade die an öffentlichen (weitgehend gebührenfreien) Bildungseinrichtungen Studierenden mit geringen Einkünften ihre Studienkosten steuerlich regelmäßig nicht geltend machen können.

Steuerliche Bildungsgerechtigkeit de lege ferenda

Will der Gesetzgeber einen steuerrechtlichen Beitrag zur tertiären Bildungsgerechtigkeit leisten, so könnte er auch die Kosten eines universitären Erststudiums – ggfs. angesichts der privaten Mitveranlassung der Höhe nach beschränkt – den Werbungskosten oder Betriebsausgaben zuordnen. Alternativ könnte er den bestehenden Sonderausgabenabzug – parallel zur Rechtslage bei Spenden (§ 10b Abs. 1 S. 9 EStG) – ergänzen, sodass im Jahr der Zahlung nicht verrechenbare Erstausbildungskosten in zukünftige Veranlagungszeiträume vorgetragen werden können.

Unter Föderalismusgesichtspunkten hätte eine steuerrechtliche Reform den Vorteil, dass – anders als bei sonstigen Initiativen des Bundes im Bildungsbereich – keine Zweifel über die Gesetzgebungskompetenz bestehen (konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes mit Zustimmungsvorbehalt der Länder, Art. 105 Abs. 1, 3 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 GG). Es bleibt – auch angesichts der positiven Haushaltslage – zu hoffen, dass die jetzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht primär als Abschluss eines juristischen Streits, sondern als Auftakt für eine politische Reformdiskussion gesehen wird.

 

Zitiervorschlag: Tim Maciejewski, Fehlende Bildungsgerechtigkeit im Einkommensteuerrecht, JuWissBlog Nr. 6/2020 v. 28.1.2020, https://www.juwiss.de/6-2020/

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Bildungsgerechtigkeit, Bundesverfassungsgericht, Einkommensteuer, Erstausbildung, Steuerpolitik
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Tibor Schober
    29. Januar 2020 10:04

    Sehr geehrter Herr Maciejewski,

    eine kleine Anmerkung, weil mich das Thema auch schon mehrfach beschäftigt hat.

    Hätte nicht die Kassation der Regelung noch viel eher „Kinder aus wohlhabenderen Familien“ (so Ihre Bezeichnung) begünstigt? Schaut man sich die vom BFH vorgelegten Fälle an, waren es doch allesamt Pilotenausbildungen oder Universitätsstudien im Ausland. Gibt es statistische Erhebungen, welche Kinder welcher „Herkunft“ (Sie nutzen den Terminus wohlhabend) bspw. eine Erstausbildung in Großbritannien / den USA beginnen und dafür hohe Studiengebühren und Kosten der Unterbringung/Reisekosten aufwenden? Dürfte es nicht im Regelfall so sein, dass gerade „Wohlhabende“ dies ihren Kindern ermöglichen und damit die Eltern die Finanzierung übernehmen, indem diese überobligatorische Unterhaltszahlungen leisten. Wenn nun diese Aufwendungen vollständig BA/WK wären, ohne dass zugleich Einnahmen vorliegen, führen also Unterhaltsleistungen der wohlhabenden Eltern zu Verlustvorträgen der Kinder. Tatsächlich ist aber nicht die Leistungsfähigkeit der Kinder gemindert sondern die der Eltern. Der Gesetzgeber hat sich aber dazu entschieden, Kinderfreibeträge auf das sächliche Existenzminimum zu beschränken. Dann würden diese Unterhaltszahlungen aber (perpetuiert im Verlustvortrag des Kindes) zu einer Steuerminderung beim Kind führen, obgleich gerade diese Kind „wohlhabender Eltern“ durch diese Ausbildung noch deutlich bessere „Startchancen“ im Berufsleben haben dürfte, als vergleichbare Absolventen innerstaatlicher Hochschulen. Der Ungleichheit wäre hierdurch doch noch eher Vorschub geleistet.

    Zugegeben, diese Argumentationskette verfängt nicht, wenn wir über klassische Pilotenausbildungen sprechen. Hier ist das Kind idR Darlehensnehmer und verschuldet sich erheblich für seine Ausbildung. Tatsächlich werden aber die Darlehen oft durch zukünftige Arbeitgeber finanziert und eine Tilgung durch spätere Tätigkeit wird im Grunde beabsichtigt. Hier haben wir also eine Sonderkonstellation (zwingend teure Ausbildung, sehr geringe Fallzahl bundesweit), die wirtschaftlich außerhalb des Steuerrechts „abgefangen“ wird.

    Mein Petitum: Ob Vortragsfähigkeit oder nicht, die Abzugsfähigkeit muss sich am typischen Fall orientieren und berücksichtigen, dass der Staat innerstaatlich nahezu kostenfreie (gebührenfreie) Ausbildung (Hochschule, Berufsschule) gewährleistet und zugleich für nicht leistungsfähige Kinder/Eltern staatliche Leistungen (BaföG) vorsieht. Von hohen Abzugsbeträgen profitieren nur „die Wohlhabenden“ oder sehr spezielle Arbeitgeber.

    Viele Grüße
    Tibor Schober

    Antworten
    • Tim Maciejewski
      30. Januar 2020 14:49

      Lieber Herr Schober,

      vielen Dank für die Anmerkung.

      Sie haben natürlich recht, dass ein unbeschränkter Werbungskostenabzug auch diejenigen begünstigen würde, die eine besonders kostspielige Ausbildung durch Unterhaltsleistungen ihrer Eltern finanzieren. Es gibt aber für eine Vielzahl derartiger Ausbildungsgänge oder -abschnitte (insbesondere die von Ihnen angesprochenen Auslandsaufenthalte) Finanzierungsformen, die vom Einkommen der Eltern unabhängig sind (Stipendien, Studiendarlehen, umgekehrte Generationenverträge). Ich würde deshalb nicht sagen, dass es sich bei der Pilotenausbildung um einen absoluten Ausnahmefall handelt, in dem derartige Ausbildungen nicht von den Eltern finanziert werden.

      Ich muss allerdings zugeben, dass mir keine umfassenden statistischen Erhebungen vorliegen, zu welchem Anteil kostenintensive Ausbildungen durch Unterhaltszahlungen der Eltern finanziert werden und zu welchem Anteil auf anderen Finanzierungswegen. Ich kann insoweit nur die Situation an meiner Hochschule darstellen, die ebenfalls eine solche Ausbildung anbietet (Studiengebühren in Höhe von insgesamt ca. 50.000 € und ein obligatorischer Auslandsaufenthalt): Der Anteil der BAföG-Empfänger*innen liegt bei immerhin ca. 10 % (damit allerdings bei nur ungefähr der Hälfte des Anteils an öffentlichen Hochschulen), der Anteil von Stipendiat*innen eines Begabtenförderungswerks ist dafür überdurchschnittlich hoch und eine Finanzierung über einen umgekehrten Generationenvertrag steht grundsätzlich allen Studierenden offen (und wird von ca. 33 % der Studierenden auch genutzt).

      Ich würde auch nicht sagen, dass der Gesetzgeber keinen Typisierungsspielraum hat und den Abzug von Ausbildungskosten nicht begrenzen darf. Ich habe daher ja auch bewusst darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber (wie bei anderen Abzugsbeschränkungen für gemischt veranlasste Aufwendungen, bspw. in § 4 Abs. 5 EStG) die Höhe oder den Anteil der abzugsfähigen Kosten begrenzen könnte. Mir ging es nur darum, aufzuzeigen, dass die Rechtslage de lege lata Gestaltungsanreize und -möglichkeiten nur für diejenigen Steuerpflichtigen bietet, die finanziell durch ihre Eltern unterstützt werden können, während Steuerpflichtige, bei denen das nicht der Fall ist, in aller Regel keinerlei steuerliche Vorteile erzielen können, obwohl auch Ihnen nicht unerhebliche Aufwendungen entstehen können. Die Abzugsregelungen erlauben damit m.E. gerade nicht dem „typischen“ Studierenden, seine Kosten abzuziehen, sondern nur den finanziell „privilegierten“. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts erweckt hier m.E. aber genau den umgekehrten Anschein. Vielleicht würde die zweite von mir vorgeschlagene Alternative, eine der Höhe nach begrenzte aber vortragsfähige Abzugsmöglichkeit (ähnlich wie der Spendenabzug mit Vortragsmöglichkeit), eine vermittelnde Position darstellen, der sie sich auch anschließen könnten.

      Viele Grüße

      Tim Maciejewski

      Antworten

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