von JULIA STINNER
Ganz im Fokus höchstrichterlicher Rechtsprechung stand der Bundespräsident als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik am Dienstag. Die obersten Verfassungsrichter urteilten neben dem Verfahren zur Wahl des Bundespräsidenten auch über den staatsrechtlichen Klassiker des ihm zustehenden Äußerungsrechts.
Die Gedanken sind frei… aber die Worte auch?
Zur Erinnerung: Bundespräsident Joachim Gauck äußerte gegenüber Schülerinnen und Schülern im Kontext hitziger Proteste gegen ein Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf seine Sympathie für Widerstand und Kampf gegen rechtsextremes Gedankengut. Immer wieder wurde seine Äußerung „Wir brauchen Bürger, die auf die Straße gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen. Dazu sind sie alle aufgefordert.“ in der Presseberichterstattung zitiert. In der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts ist nun erstmals der inhaltliche Zusammenhang der Äußerungen ersichtlich. Eine Schülerin fragte Joachim Gauck, wie dieser als Privatmann zum Abreißen von NPD-Plakaten in der Wahlkampfphase stehe. Gauck antwortete daraufhin, dass er sich an solchen Dingen nicht beteiligen würde, und bezog seine weiteren Ausführungen dann auf Mittel und Möglichkeiten, sich gegen Rechtsradikale und deren Gesinnung im Allgemeinen zur Wehr zu setzen. Aus dieser Antwort stammt auch die viel zitierte Passage; dem Wortlaut ist allerdings kein ausdrücklicher Bezug zur NPD zu entnehmen. Weitere Schüler richten im Folgenden ihre Fragen an den Bundespräsidenten, ein Schüler erkundigt sich nach Gaucks Meinung zum NPD-Verbotsverfahren. Auch hier wurde mit keinem Wort die antragstellende NPD erwähnt, im Kontext des beantragten Parteiverbots äußert sich Gauck aber mit ähnlichen Worten wie zuvor: „Wir können die Partei verbieten, aber die Spinner und Ideologen und die Fanatiker, die haben wir dann nicht aus der Welt geschafft.“
Zugespitzte Wortwahl oder Schmähkritik?
Man muss die rechtlichen Ausführungen des Verfassungsgerichts nicht teilen, doch überraschen sie nicht. Schon in der mündlichen Verhandlung im Februar gestand Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle dem Bundespräsidenten wertende Äußerungen zu. Eine Verletzung der Rechte der NPD aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes ist nun dank dieses grundsätzlichen Urteils vollends vom Tisch. Doch der Reihe nach:
Die Zulässigkeit des Organstreitverfahrens wird kurz und knapp bejaht; insbesondere sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die NPD als Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen durch die angegriffenen Äußerungen verletzt worden sei. Anders als vom Antragsgegner, dem Bundespräsidenten, behauptet, wird eine rechtserhebliche Maßnahme angenommen (siehe BVerfGE 118, 277 (317) zur rechtserheblichen Maßnahme).
Dem Antrag wird jedoch die Begründetheit abgesprochen. Der Bundespräsident hat neben den ihm ausdrücklich zugewiesenen Befugnissen kraft seines Amtes insbesondere die Aufgabe, im Sinne der Integration des Gemeinwesens zu wirken. Diese Aufgabe wird in drei Schritten zum Prüfungsprogramm des Gerichts: Dem Staatsoberhaupt kommt zur Erfüllung seiner Aufgaben (1) ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der (2) seine Grenzen in der Verfassungs- und Gesetzesbindung findet, und (3) eine gerichtliche Beanstandung von Äußerungen, die die parteiliche Chancengleichheit betreffen, ist nur dann erlaubt, wenn die Integrationsaufgabe evident vernachlässigt und damit willkürlich Partei ergriffen wird. Neben den standardmäßig zu erwartenden generellen Ausführungen zum Amt des Bundespräsidenten wird klar hervorgehoben, dass Joachim Gauck als Amtsinhaber die ihm zufallenden Repräsentations- und Integrationsaufgaben frei mit Leben füllen kann. Das gilt selbst bei kritischen Äußerungen, denn, so die Urteilsbegründung:
„Der Bundespräsident kann […] den mit dem Amt verbundenen Erwartungen nur gerecht werden, wenn er auf gesellschaftliche Entwicklungen und allgemeinpolitische Herausforderungen entsprechend seiner Einschätzung eingehen kann und dabei in der Wahl der Themen ebenso frei ist wie in der Entscheidung über die jeweils angemessene Kommunikationsform. Der Bundespräsident bedarf daher, auch soweit er auf Fehlentwicklungen hinweist oder vor Gefahren warnt und dabei die von ihm als Verursacher ausgemachten Kreise oder Personen benennt, über die seinem Amt immanente Befugnis zu öffentlicher Äußerung hinaus keiner gesetzlichen Ermächtigung.“
Art. 20 Abs. 2 sowie Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG statuieren Grenzen und Bindungen der Amtsausübung, sodass der Bundespräsident keinesfalls „über dem Gesetz“ steht. Geachtet werden muss daher auch das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen, das bei einer Einwirkung von Staatsorganen zugunsten oder zulasten einer politischen Partei (vgl. BVerfGE 44, 125(146) zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung) oder durch Kundgabe negativer Werturteile über parteiliche Ziele und Betätigungen (vgl. BVerfGE 40, 287 (293) bzgl. eines entsprechenden Antrags der NPD) beeinträchtigt sein kann. Entscheidend ist hier, wie so oft, eine Abwägung im Einzelfall. Der Zweite Senat greift dafür auf Ansätze zurück, die in den beiden genannten Entscheidungen aufgestellt wurden. Negative Werturteile sind demnach zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung grundsätzlich zulässig, unzulässig werden sie erst dann, wenn sie auf sachfremden Erwägungen beruhen und den Anspruch der Partei auf gleiche Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigen. Denn dieses Recht der Parteien ist ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung (siehe auch BVerfGE 133, 100 (108) bzgl. der Beteiligung staatlicher Stellen an der öffentlichen Auseinandersetzung über die Einleitung eines Parteiverbotverfahrens). Diese Ansätze können schon wegen der in der Verfassung angelegten strukturellen Unterschiede zwischen dem Bundespräsidenten und der Bundesregierung oder direkter politischer Konkurrenten nicht ohne Modifizierung übernommen werden. Das Wort als Machtinstrument zur integrativen Umsetzung der Wahrung und Förderung des Gemeinwesens erlaubt dem Staatsoberhaupt jene Freiheit, zu der auch das Werben um Engagement zur Beseitigung von Missständen und Fehlentwicklungen zählt. Wörtlich heißt es:
„[…] [der Bundespräsident ist] nicht gehindert, die von ihm erkannten Zusammenhänge zum Gegenstand seiner öffentlichen Äußerungen zu machen. Dem steht die verfassungsrechtliche Erwartung nicht entgegen, dass der Bundespräsident – insbesondere zu Wahlkampfzeiten – eine gewisse Distanz zu Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wahrt, weil mit ihr nicht die Vorstellung eines politisch indifferenten Amtswalters verbunden ist. Äußerungen des Bundespräsidenten sind dabei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, solange sie erkennbar einem Gemeinwohlziel verpflichtet und nicht auf die Ausgrenzung oder Begünstigung einer Partei um ihrer selbst willen angelegt sind.“
Davon umfasst ist ausdrücklich eine zugespitzte Wortwahl; nicht hingegen jedoch beleidigende Äußerungen oder gar Schmähkritik. Aufgrund dieser dem Bundespräsident zustehenden Freiheit bei seiner Amtsausübung ist eine gerichtliche Überprüfung negativer Äußerungen über eine Partei auf eine evidente Vernachlässigung der Integrationsfunktion und Willkür beschränkt.
Beleidigende Kurzschlussreaktion vs. polemisch gerechtfertigte Kritik
Die Wortwahl „Spinner“ ist also von der integrativen Amtsausübung des Bundespräsidenten gedeckt. Ob sich das die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch so vorgestellt haben? Karlsruhe jedenfalls führt aus, Gauck habe sich mit seinen Äußerungen gegen geschichtsvergessene rechtsradikale und fremdenfeindliche Überzeugungen gewandt und dazu aufgerufen, mit demokratischen Mitteln zu verhindern, dass sich diese Überzeugungen durchsetzen. Ein legitimes Ziel, das dem Selbstverständnis des Grundgesetzes vollkommen entspricht.
Sucht man den oder die Spinner im Duden, so informiert das Standardnachschlagwerk der deutschen Sprache, ein Spinner sei, wer wegen seines absonderlichen, skurrilen, spleenigen Verhaltens auffällt und deswegen als Außenseiter betrachtet wird. Nebeninformation zum Gebrauch: umgangssprachlich, abwertend.
Abwertend war die Äußerung; man kann geteilter Meinung sein, ob dies einer dem Amt des Bundespräsidenten angemessenen sprachlichen Ebene entspricht. Staatsrechtler Joachim Wieland, der Prozessbevollmächtigte von Joachim Gauck, führte aus: „Ich glaube, der Bundespräsident darf polemisch sein, wenn die Personen oder Parteien, mit denen er sich auseinandersetzt, auch polemisch sind.“
Dass auch politisch brisante Äußerungen umfasst sind von der Repräsentations- und Integrationsfunktion, ist begrüßenswert. Die Beurteilung hätte gegenteilig ausfallen müssen, wenn Gauck in seinen Äußerungen ausdrücklich auf die NPD abgestellt hätte und die Wortwahl nicht als reiner Sammelbegriff für Rechtsradikale zu deuten und verstehen gewesen wäre. Reißerische Überschriften und Meldungen der Presse zu den gestrigen Urteilen rücken durch ihre teils unvollständige und unsaubere Wiedergabe der verfassungsgerichtlichen Differenzierungen in die Nähe plakativen Sensationsjournalismus, wenn es beispielsweise heißt, der Bundespräsident sei keinesfalls zur politischen Neutralität verpflichtet. Vielmehr ist die Freiheit und Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten in den Grenzen parteipolitischer Neutralität gestärkt worden.