Diskriminierungsfreie Personenkontrollen im Schengenraum

von PHILIP WEYAND

Weyand PhilipMit seinem Urteil vom 22.10.2015 zur verdachtsunabhängigen Personenkontrolle eines in Kabul geborenen Deutschen durch die Bundespolizei hat das VG Stuttgart zumindest eine teilweise Kollision des Schengener Grenzkodex mit den Ermächtigungsgrundlagen im Bundespolizeigesetz zur Identitätsfeststellung erkannt. Entzieht sich das Gericht durch die Auflösung einer Normenkollision zugunsten des Europarechtes also der weiter dringend notwendigen richterlichen Ablehnung des Racial Profiling?

Urteil des VG Stuttgart

Aus den bisher vorliegenden Pressemitteilungen zur mündlichen Hauptverhandlung und zum Urteil geht hervor, dass Beamte der Bundespolizei die Identität eines in Kabul geborenen Deutschen im ICE zwischen Baden-Baden und Offenburg (Grenzregion zu Frankreich) festgestellt haben. Der Betroffene klagte auf eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme, da eine gerade auf ihn gerichtete Kontrolle insbesondere auf seine Hautfarbe zurückzuführen sei, und damit u.a. gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße. Die Bundespolizei wiederrum beruft sich auf § 23 Abs. 1 Nr. 3 BuPolG, der sie auch zu verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellungen im Grenzgebiet zur Verhinderung unerlaubter Einwanderung berechtigt.

Das VG Stuttgart hat der Klage des Betroffenen stattgegeben. Nicht aber ob seiner wohl vorwiegenden Beschwerdegründe der Ungleichbehandlung gegenüber allen anderen Waggoninsassen, sondern mit Hinweis auf vorgehende Normen des Unionsrechtes. Das Gericht ist der Ansicht, dass verdachtsunabhängige Kontrollen zur Verhinderung des unerlaubten Grenzübertritts im Schengenraum grundsätzlich nicht gestattet sind. Die Bundespolizei verfügte demnach im vorliegenden Fall schlicht über keine Ermächtigungsgrundlage zur Identitätsfeststellung, wobei das Gericht die Berufung für zulässig erklärt hat.

Keine verdachtsunabhängigen Grenzkontrollen im Schengenraum

Der Schengener Grenzkodex wirkt als Verordnung der EU unmittelbar auch in das deutsche Recht. Damit genießt er bekanntermaßen Anwendungsvorrang. Im Grundsatz verbietet er Grenzkontrollen im Binnenraum, erlaubt aber ausnahmsweise deren temporäre Wiedereinführung. Diese durch das Schengener Governance Package 2013 erweiterten Möglichkeiten der Wiedereinführung von Grenzkontrollen (dort Art. 23 ff.) – von denen die Bundesrepublik im Zuge der anhaltenden Migrationswelle aktuell Gebrauch macht – waren bei den hier in Frage stehenden Kontrollen aus dem Jahre 2013 nicht einschlägig.

Die Entscheidung zur Europäischen Integration im Schengensystem hat also auch für den Gesetzgeber weitreichende Konsequenzen. Die Grenzkontrollen als unmittelbare Folge der staatlichen Souveränität dürfen nur noch an den Schengen-Außengrenzen ges

tattet werden. Die innerstaatlich zuständige Bundespolizei hat also im Normalfall – ohne temporäre Wiedereinführung – keine Möglichkeit mehr, systematische, verdachtsunabhängige Grenzkontrollen durchzuführen.

Richtig erkannt hat das Gericht, dass polizeiliche Personenkontrollen gemäß Art. 21 des Grenzkodex aber auch im Grenzbereich durchgeführt werden dürfen, wenn sie keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, nicht als solche wirken, nicht vergleichbar systematisiert sind und z.B. auf die konkrete Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität ausgerichtet sind. Schließlich müssen solche Kontrollen stichprobenartig durchgeführt werden.

Das (nicht erfüllte) Bestimmtheitserfordernis als Ausweichmöglichkeit?

Diese Anforderungen des Schengener Grenzkodex an nationale Rechtsgrundlagen für Personenkontrollen im Grenzgebiet müssen gemäß EuGH – Melki u. Abdeli auch in der Norm genannt werden, um insbesondere das tatsächliche Ermessen der Beamten bei der Kontrolle in die vorgegebenen Bahnen zu lenken. Dies erfüllt § 23 Abs. 1 Nr. 3 BuPolG nicht, der ja gerade nur verdachtsunabhängige Identitätsfeststellungen zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise vorsieht. Eine unionskonforme Auslegung ist hier ob des zum Schengener Grenzkodex gegenläufigen Wortlautes ausgeschlossen.

Das Gericht hat mit dieser Entscheidung ein Versäumnis des deutschen Gesetzgebers aufgedeckt, welches zumindest die Bundesregierung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission gegen die BRD noch immer nicht einsieht. Hier kann und wird der verwaltungsgerichtliche Schub wohl zu einem Einsehen führen, die Norm doch irgendwann bestimmter zu gestalten.

Durch den dogmatisch zweifellos richtigen Weg, die Rechtsgrundlage für unanwendbar zu erklären, und die weitere Prüfungen offen zu lassen, hat sich das Gericht aber der ebenfalls drängenden Frage nach der Art und Weise der Auswahl der zu kontrollierenden Personen scheinbar entzogen. Die grundrechtliche Problematik des Racial Profilings lediglich als Aufhänger zur Lösung einer normativen Kollisionslage?

Der dezente Hinweis des Gerichtes auf Stichproben

Kontrollen fernab jedes konkreten Verdachtes nur aufgrund persönlicher Eigenschaften, so zum Beispiel der Hautfarbe, sind bereits ob Art. 3 Abs. 3 GG als diskriminierend zu bewerten und damit verboten. Ob die hier behandelte Identitätsfeststellung diskriminierend erfolgte, hat das Gericht offen gelassen. Dies ist insofern erst einmal zu bedauern, als dass es hier aufbauend auf seine Argumentation durch explizite Aussagen ein wenig Klarheit für eine vieldiskutierte Frage hätte bringen können.

In der jüngeren Vergangenheit war insbesondere der vom VG Stuttgart nicht geprüfte § 22 Abs. 1a BuPolG Anknüpfungspunkt für das Thema Racial Profiling. Hier stand selten die Rechtsgrundlage selbst, sondern eher ihre konkrete Anwendung im Zentrum der Debatte. Wie in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BuPolG kann die Bundespolizei aber auch hier bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen jede Person kontrollieren. Eine Anweisung an die Art und Weise der Auswahl der zu kontrollierenden Personen findet sich in beiden Normen nicht.

Das VG Stuttgart geht hier zumindest in der Pressemitteilung nicht auf § 22 Abs. 1a BuPolG ein. Weist es aber auf die zu erfüllenden Voraussetzungen des Grenzkodex für weitere polizeiliche Kontrollen hin, so sind hier explizit auch Vorgaben an die Art und Weise der Auswahl der Personen miteingeschlossen: Stichproben. Diese müssen dann auch für die weiteren im Anwendungsbereich des Kodex liegenden Normen gelten.

Der Vorrang des Europarechtes als effektive Lösung

Das VG Stuttgart hat erkannt, dass Racial Profiling gerade durch eine weit formulierte und damit unklare Rechtsgrundlage bedingt sein kann und die Lösung dieser Problematik auf der Ebene des Europarechtes zumindest für seinen Anwendungsbereich bereitsteht. Handelt die Bundespolizei also auf der Grundlage von abstrakten Lageerkenntnissen grenzkontrollenähnlich – für tatsächlich verdächtige Personen bestehen selbstverständlich andere Rechtsgrundlagen – und kontrolliert einen Waggon mit unverdächtigen Personen, so darf sie das gemäß den Vorgaben des Schengener Grenzkodex u.a. nur durch Stichprobensystematik. Vor dem Einstieg der Beamten könnte beispielsweise festgelegt werden: „Heute Wagen 22, Sitzplätze 04 und 09“. Mit der richtigen Anwendung dieser Vorgaben dürften sich die Fälle verhältnismäßig gehäufter Kontrollen Personen anderer Abstammung minimieren.

Durch den klaren Verweis auf die Voraussetzungen des Schengener Grenzkodex hat sich das VG Stuttgart also nicht aus seiner Verantwortung hinsichtlich einer Vermeidung von Racial Profiling gestohlen. Mit bewundernswerter Klarheit zeigen die Richter tatsächlich auf, dass zumindest auf der Normebene im Anwendungsbereich des Kodex mit den vorgeschriebenen Stichproben effektive Vermeidungswerkzeuge bestehen. Europa wieder einmal als Lösung einer grundrechtlich relevanten Fragestellung. Eine tolle Entscheidung für die unrechtmäßig Betroffenen der auf beide Normen gestützten Maßnahmen. Genauso aber auch für die Beamten der Bundespolizei, welche häufig die Folgen der anhaltend misslichen Rechtsunklarheit tragen.

Europarecht, Gleichheitsgrundsatz, Grenzkontrollen, Personenkontrollen, Philip Weyand, Polizeirecht, Racial Profiling, Schengener Grenzkodex
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