Auch nach rein objektivem Maßstab wäre eine Impfpflicht ein erheblicher Grundrechtseingriff

von ROBERT ZIEHM

Die Frage nach der Eingriffsintensität einer Covid-19-Impfpflicht hat zu einer fruchtbaren Debatte zwischen Ute Sacksofksy und Klaus Ferdinand Gärditz auf dem Verfassungsblog geführt. Beide haben teilweise recht.

Ute Sacksofsky und Klaus Ferdinand Gärditz lieferten sich jüngst auf dem Verfassungsblog eine Auseinandersetzung über die Methode zur Bestimmung der Eingriffsintensität einer Impfpflicht. Bei dem kontrovers geführten Hin und Her und Hin und Her, ging es primär um die Frage, ob die subjektiven Ansichten der potentiellen Adressaten einer Impfpflicht die Eingriffsintensität einer solchen beeinflußen würden. Sacksofsky behauptete dies und begründete dies unter Anderem damit, dass eine objektive Beurteilung „in Wahrheit immer die des Manstreams“ sei. Gärditz widersprach ihr sowohl hinsichtlich ihres subjektiven Maßstabs, als auch hinsichtlich dieser Begründung. Mittlerweile haben sich auch Hans Peter Bull, Jörn Reinhardt und Mathias Hong sowie Martin Nettesheim zu Wort gemeldet.

Zunächst sei gesagt, dass das Gärditz‘sche Argument, dass Abwägungsbelange im Regelfall nicht nach subjektiven, sondern nach objektiven oder jedenfalls objektivierten Maßstäben zu gewichten seien, überzeugt. Das Konzept Sacksofskys vom subjektiven Maßstab tappt in die Falle des Relativismus und führt in letzter Konsequenz zur Selbstaufgabe des Rechts, weil nach subjektivem Empfinden eines Einzelnen alles einen besonders intensiven Eingriff darstellen kann (Gärditz prägnant: „Mein-Frühstücks-Cerealien-Müsli, mein Menschenwürdekern?“). Jedoch ist das Grundanliegen Sacksofskys, effektiven Grundrechtsschutz auch einer objektiv falschen Mindermeinung zukommen zu lassen, berechtigt. Hier soll nun gezeigt werden, dass dies durch eine genauere Bestimmung des, und Orientierung am, Schutzbereichs der körperlichen Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, für die Impfpflicht möglich ist, ohne dabei in die Falle des Relativismus zu tappen.

Die Intensität eines Eingriffs kann nur nach detaillierter und differenzierter Maßgabe des betroffenen Schutzbereichs bestimmt werden. Denn es ist der Schutzbereich, in welchen eingegriffen wird; der Grad seiner objektiven Betroffenheit bestimmt somit die Intensität des Eingriffs und damit die Gewichtung dieses Abwägungsbelangs. Der Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit lässt sich nach dem BVerfG aufspalten in ein Integritätselement (Recht auf körperliche Integrität) und ein diesbezügliches Autonomieelement (Recht auf körperliche Selbstbestimmung).

Integritäts- und Autonomieelement der körperlichen Unversehrtheit

Die Betroffenheit beider Elemente ist objektiv zu bestimmen, und eine Impfpflicht würde in beide Elemente eingreifen. Die Schwere dieses Eingriffs muss dann zwingend am Maßstab dieser Schutzbereichselemente und ihres Telos bemessen werden und nicht etwa an generischeren Rationalitätskriterien. Nimmt man an, dass eine Impfung weitestgehend ungefährlich ist, schrumpft die Intensität des Eingriffs in die körperliche Integrität (Integritätselement) bis auf ein Minimum zusammen. Die Intensität des Eingriffs in die körperliche Selbstbestimmung (Autonomieelement) bleibt jedoch erheblich. Dies trifft allgemein auf alle medizinischen Zwangseingriffe zu (die Unterscheidung zwischen Pflicht und Zwang ist hier rechtsunerheblich). Beispielsweise wäre die Pflicht zur Injizierung milden Gifts zwar wegen des schwerer betroffenen Integritätselements von insgesamt noch höherer Eingriffsintensität, doch gewährleistet das bei medizinischen Zwangseingriffen stets erheblich betroffene Autonomieelement eine Untergrenze, unter welche die Eingriffsintensität nicht sinken kann, egal wie objektiv unschädlich der Eingriff auch ist (anders bspw. Brosius-Gersdorf/Gersdorf, welche nur auf die körperliche Integrität abstellen).

Parallele zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Die Intensität eines Eingriffs in das Autonomieelement bemisst sich also nach dem Grad, zu welchem die körperliche Selbstbestimmung eingeschränkt wurde. Dies lässt sich nach objektiv-rationalem Maßstab feststellen und knüpft gerade nicht unmittelbar an die subjektiven Ansichten an, welche Individuen dazu verleiten, ihre Selbstbestimmung so oder so ausüben zu wollen. Eine solche Schutzbereichskonstruktion lässt sich strukturell mit den Grundrechten auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit vergleichen. Auch dort wird an den „äußeren Rahmen“ und nicht an den „Inhalt“ angeknüpft. Die Intensität eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit bestimmt sich richtigerweise danach, zu welchem Grad das Verbreiten einer Meinung verhindert/erschwert wurde und – zumindest im Grundsatz – nicht danach, welche Meinung im Einzelfall betroffen ist. Es wird nämlich grundsätzlich nicht – außer in verfassungsrechtlich speziell begründeten Fällen – an die Wertigkeit oder Rationalität einer Meinung angeknüpft. Auch wird nicht ein Eingriff in die Meinungsfreiheit deswegen intensiver, weil die- oder derjenige die Meinung selbst für besonders bedeutsam oder gewichtig hält. Im Regelfall genießt jede Meinungsäußerung dasselbe Schutzniveau, egal ob sie liberal, monarchistisch, anarcho-syndikalistisch, queerfeministisch oder querdenkerisch ist. Die Intensität des Eingriffs hängt allein davon ab, zu welchem Grad die Äußerung der Meinung staatlicherseits vereitelt wurde. Genauso verhält es sich mit der Versammlungsfreiheit und auch mit der körperlichen Selbstbestimmung als Teilelement der körperlichen Unversehrtheit.

Die richtige Erkenntnis des BVerfG, dass die körperliche Unversehrtheit auch eben jenes Autonomieelement enthält, muss letztlich auf der Erkenntnis fußen, dass ohne ein solches der Grundrechtsschutz teilweise leerzulaufen droht. Sacksofsky hat treffend darauf hingewiesen, dass die objektive Beurteilung immer in Wahrheit die des „Mainstreams“ sei. Zwar mag der Mainstream in unserer aktuellen Gesellschaft weitestgehend tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis orientiert sein, doch ist dies, wie die Geschichte lehrt, keine Zwangsläufigkeit. Der zentrale Telos der Grundrechte ist der Schutz des Individuums vor dem in einer Demokratie majoritätskontrollierten Staat. Böten die Grundrechte nicht für den Fall Schutz, dass die Mehrheit eine objektiv falsche Beurteilung für objektiv richtig erklärt (wozu sie durchaus in der Lage wäre), so wäre dieser Telos zu einem nicht unerheblichen Teil preisgegeben/unterlaufen. Die diesbezügliche Kritik Gärditz‘ geht also fehl. Die Erkenntnis Sacksofskys begründet allerdings nicht ein Anknüpfen an subjektive Auffassungen, wie sie selbst meint. Vielmehr bildet sie die teleologische Grundlage für dasjenige Schutzbereichsverständnis der körperlichen Unversehrtheit, welches hier in Anlehnung an das BVerfG vorgeschlagen wurde. Weiterführend sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht auch in weiteren Grundrechten Autonomieelemente zu erkennen sind, mit welchen die Problematik des objektiven vs. subjektiven Maßstabs genereller aufgelöst werden könnte.

Was dies nun konkret für die Impfpflicht bedeutet

Eine Impfpflicht würde einen sehr empfindlichen Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung darstellen. Gleichzeitig dürfte der Eingriff in die körperliche Integrität gering bis minimal sein, womit insgesamt summarisch trotzdem ein erheblicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbleibt. Ein solcher könnte gerechtfertigt werden. Hierfür bedürfte es gewichtiger Belange auf der anderen Seite der Abwägung. In Betracht käme die drohende Überlastung der Intensivstationen. Bei einem Trilemma beispielsweise zwischen einer Impfpflicht, einer Überlastung der Intensivstationen und einem harten und flächendeckenden Lockdown, könnte die Impfpflicht unter Umständen sogar die grundrechtsschonendste Handlungsalternative darstellen. Ob wir uns in einem solchen Trilemma befinden, ist eine Frage für die Epidemiologie. Sollte durch Omikron keine Überlastung der Intensivstationen oder vergleichbare Übel drohen, so dürfte der Eingriff wohl unangemessen sein.

Fazit

Die Ausformung von Schutzbereichen, und die Gewichtung von Eingriffen in sie, muss im Regelfall anhand objektiver bzw. objektivierter Kriterien vorgenommen werden, andernfalls droht die Verhältnismäßigkeitsprüfung mangels rationaler Grundlage zu versagen. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit muss gleichwohl qua Autonomieelement gegenüber medizinischen Zwangseingriffen eine Gewichtigkeitsuntergrenze besitzen, welche dem Individuum Raum zur medizinischen Häresie lässt. Andernfalls drohte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit seinerseits ausgehöhlt und unterlaufen zu werden.

Hinweis und Nachtrag (09.02.2022): Der Beitrag wurde im ersten Absatz um einen Verweis auf die ebenfalls auf dem Verfassungsblog erschienen Beiträge von Hans Peter Bull, Jörn Reinhardt und Mathias Hong sowie Martin Nettesheim ergänzt.

Zitiervorschlag: Ziehm, Robert, Auch nach rein objektivem Maßstab wäre eine Impfpflicht ein erheblicher Grundrechtseingriff, JuWissBlog Nr. 11/2022 v. 08.02.2022, https://www.juwiss.de/11-2022/.

 

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Autonomieelement, COVID-19, Eingriff, Impfpflicht, körperliche Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit
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