Datenschutz als Werkzeug zur Antidiskriminierung

von EMMA BARTMANN und LAURA-THERESA GODAU

Monsieur oder Madame? Für das Bahnfahren egal! So entschied der EuGH am 9. Januar 2025 im Rahmen eines durch den französischen Staatsrat (Conseil d’État) initiierten Vorabentscheidungsverfahrens. Dieser hatte über eine Beschwerde des französischen Vereins „Mousse“ zu entscheiden. Der Verein, der zum Zweck hat, gegen Diskriminierung der LGBTQIA* Community zu prozessieren, war zuvor bei der französischen Datenschutzbehörde („CNIL“) gegen die Praxis des französischen Eisenbahnunternehmens SNCF vorgegangen, beim Onlinekauf von Bahntickets das Geschlecht abzufragen. Die möglichen Angaben waren „Herr“ und „Frau“.

Hintergrund

Der Verein begehrte dabei nicht eine zusätzliche neutrale Anredeoption, sondern argumentierte u.a. mit Verweis auf die Grundsätze der Rechtmäßigkeit und der Datenminimierung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) für die vollständige Abschaffung von Geschlechtsabfragen beim Ticketkauf. Diese Beschwerde wurde 2021 von der CNIL abgewiesen, weshalb sich der Verein an den Staatsrat wandte. Dieser setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH 2023 zwei Vorlagefragen vor. In diesen ging es im Wesentlichen darum, ob die Verarbeitung der persönlichen Anrededaten zum Zweck einer bezüglich der Geschlechtsidentität personalisierten geschäftlichen Kommunikation i.S.d. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b), f) i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. c) DSGVO erforderlich sei.

Natürliche Personen genießen ein unionsrechtlich gewährtes Recht auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten. Dieses ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 GrCh sowie Art. 16 Abs. 1 AEUV. Diese Gewährleistungen gelten nicht uneingeschränkt, Konkretisierungen finden sich in der DSGVO. Im vorliegenden Verfahren waren vor allem Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b), f) i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. c) DSGVO relevant. Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung ist das Vorliegen einer Rechtsgrundlage. Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) DSGVO muss die Datenverarbeitung “für die Erfüllung eines Vertrags, […] oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich” sein. Der Grundsatz der Datenminimierung aus Art. 5 Abs. 1 lit. c) DSGVO besagt, dass personenbezogene Daten dem „Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein“ müssen.

Rechtliche Beurteilung durch den EuGH

In seiner Entscheidung bezog sich der EuGH schwerpunktmäßig auf die Rechtmäßigkeitsanforderungen zur Datenverarbeitung in lit. b) und f) der erschöpfenden Liste des Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 DSGVO. Informationen über die Geschlechtsidentität seien unstreitig persönliche Daten. Eine Datenverarbeitung sei nach Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. b) DSGVO notwendig, wenn ohne sie der Hauptvertragsgegenstand nicht erfüllt werden könne (auch hier, Rn. 43, 44). Ziel der Datenerhebung war die personalisierte geschäftliche Kommunikation (so SNCF). Der EuGH entschied, diese geschäftliche Kommunikation könne relevanter Teil einer Schienentransportdienstleistung sein und umfasse auch die Verwendung von Höflichkeitsformeln. Wie im Facebook/Meta-Urteil (Rn. 102), stellte der Gerichtshof aber fest, dass Geschäftskommunikation nicht notwendigerweise personalisiert sein müsse. Die Wahl allgemeiner und inklusiver Höflichkeitsformeln sei möglich – geschlechtsidentitätsunabhängig.

Der Gerichtshof entschied zudem, dass das Interesse kommerzieller Direktwerbung nicht schwerer wiege als die Grundrechte und -freiheiten der Betroffenen (Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. f) DSGVO). Hier sei auf das Diskriminierungspotenzial einzugehen. Im Lichte der Gleichbehandlungs-Richtlinie 2004/113/EG solle nicht nur die Zugehörigkeit, sondern auch die Änderung der Geschlechtsidentität vor Diskriminierung geschützt sein. Vorliegend sei die personalisierte Kommunikation weder zur Vertragserfüllung unbedingt notwendig, noch übersteige das Interesse kommerzieller Direktwerbung die Grundrechte und -freiheiten der Betroffenen, insbesondere im Lichte einer durch die Datenverarbeitung drohenden Gefahr der Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität. Die Frage ob und inwiefern im konkreten Fall eine Diskriminierung durch Datenverarbeitung bestand, ließ der EuGH offen und verwies sie an das vorlegende Gericht. Mousse hatte im vorliegenden Fall u.a. damit argumentiert, dass die bisherige Abfragepraxis eine Diskriminierungsgefahr insbesondere für andere EU-Bürger*innen begründen würde: Soweit Heimatstaaten nichtbinäre Geschlechtseintragungen vorsähen, könnte die Datenerhebung diese in ihrem unionsrechtlich garantierten Freizügigkeitsrecht verletzen (Rn. 16). Solch nichtbinäre Eintragungsmöglichkeiten bieten z.B. Deutschland und Malta.

Der Gerichtshof hielt weder Anrede noch Geschlechtsidentität für Informationen, die vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Datenminimierung unbedingt notwendig seien (Rn. 55). Der Grundsatz der Datenminimierung und die DSGVO insgesamt enthalten keinen Verweis auf eine geschlechterbasierte Diskriminierung (Diskriminierung allgemein: Erwägungsgründe 75, 85). Wie der EuGH nun entschied, kann (geschlechterbasierte) Diskriminierung aber infolge einer Datenverarbeitung als Risiko und mögliche Verletzung persönlicher Daten gewertet werden, und muss daher auch bei der im Rahmen der Prüfung des Datenminimierungsgrundsatzes gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden.

Rechtliche Einordnung des Urteils

Die gängige Praxis, das Geschlecht mit nur binären Antwortmöglichkeiten abzufragen, wirft zwei Rechtsfragen auf: Dürfen nur binäre Antwortmöglichkeiten zur Verfügung stehen? Und darf Geschlechtsidentität überhaupt abgefragt und verarbeitet werden?

Auf das Fehlen nichtbinärer Antwortmöglichkeiten ging der EuGH nicht ausdrücklich ein. Während er die Relevanz von Art. 7 und 8 GRCh betonte, nutzte er – trotz der Ausführungen von Mousse zum Recht, den Ausdruck des eigenen Geschlechts frei zu wählen (Rn. 16) – nicht die Chance, sich zum Bestehen oder den Konsequenzen eines solchen Rechts zu äußern. Dementgegen hatte der EuGH 2024 in einem anderen Fall entschieden, dass Art. 7 GRCh, der die Reich- und Tragweite von Art. 8 EMRK teilt, verpflichtet, die Änderung der Geschlechtsidentität durch einen anderen EU-Staat bei Nutzung der Freizügigkeit anzuerkennen. Auch Art. 8 EMRK kennt durch Auslegung des EGMR die Freiheit „to determine [one‘s] gender identity“. Diese Rechte werden begrenzt durch den Ermessensspielraum (EMRK) und die Zuständigkeit für Angelegenheiten des Personenstands (EU). In Deutschland hat die DB aufgrund nationaler Rechtsstreite neutrale Angaben eingeführt, weil zwingende und falsche binäre Angaben unvereinbar mit dem AGG sind.

Weiterhin entschied der EuGH, dass eine Geschlechtsabfrage zur personalisierten Kommunikation nicht zwangsläufig notwendig sei. Nach dem EGMR ist die Geschlechtsidentität als Teil des Privatlebens eine sehr intime Information. Durch die Disaggregation gesammelter Daten nach geschützten Kategorien (wie der Geschlechtsidentität) besteht in Europa bereits historisch Diskriminierungsgefahr. Der EuGH subsumierte Geschlechtsidentität nicht als besonders sensiblen Daten nach Art. 9 DSGVO. Für die von Art. 9 DSGVO umfasste sexuellen Orientierung hingegen entschied der EuGH im Fall Maximilian Schrems gegen Facebook/Meta, dass eine Datenverarbeitung unabhängig von ihrem Sensibilitätsgrad unverhältnismäßig sei (Rn. 64) und die Praxis von Facebook/Meta den Grundsatz der Datenminimierung nicht wahre. Die Verarbeitung sensibler Daten sei unabhängig vom Zweck der Datenverarbeitung grds. verboten (Rn. 73).

Obwohl vom EP anders vorgeschlagen, nennt Art. 9 DSGVO nur die sexuelle Ausrichtung. Auch wenn der EuGH dies nicht bestätigte, wird teilweise von einem Schutz (diverser) Geschlechtsidentität ausgegangen. Der Schutz als sensible Daten böte einen umfassenderen Schutz als die Feststellung, dass eine Verarbeitung der Geschlechtsangabe mangels Notwendigkeit verboten sei.

Fazit

Wenngleich nicht ausdrücklich zu diesem Zwecke entwickelt, bieten Datenschutzmittel daher die Möglichkeit gegen potenziell diskriminierende Datenabfragungen vorzugehen. Dementsprechend positiv wurde das Urteil bei Interessenvertretungen queerer Menschen aufgenommen. Mit Blick auf die Zukunft gibt es aber noch ungenutzte Schutzmöglichkeiten für diverse Geschlechtsidentitäten, insbesondere im Hinblick auf den Katalog des Art. 9 DSGVO.

Zitiervorschlag: Bartmann, Emma und Laura-Theresa Godau, Datenschutz als Werkzeug zur Antidiskriminierung, JuWissBlog Nr. 11/2025 v. 06.02.2025, https://www.juwiss.de/11-2025/

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Antidiskriminierung, DSGVO, EuGH, Geschlechtsidentität, Vorabentscheidungsverfahren
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