von LOUISE KAVACS
Es sind schwierige Zeiten – die Corona Pandemie hält die Welt nunmehr seit einem Jahr in Atem und vertieft bzw. offenbart gesellschaftliche Gräben, die schon seit längerem schwelen. Die Spaltung der Gesellschaft angesichts des Umgangs mit der Pandemie, die auch mit einer steigenden Gewaltbereitschaft einhergeht sowie dem Hervorbrechen von Verschwörungstheorien tritt immer deutlicher, wie in Form der sog. Querdenker-Bewegung, zutage. Wie reagiert die freiheitlich-demokratische Grundordnung auf diese Entwicklung?
Gesellschaftliche Dimension
Die Querdenker-Bewegung, eine heterogene Gruppierung mit unterschiedlichen Zielen, die auch von rechten Gruppierungen vereinnahmt wird, zeigte sich bundesweit auf Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen. Neben der Verbreitung von Verschwörungstheorien stellt sie die als Mainstream deklarierten Medien unter Generalverdacht, nutzt rechtliche Spielräume aus bzw. versucht Regelungen zu umgehen, indem sie Demonstrationen kurzum zu gottesdienstähnliche Veranstaltungen erklärte und verlangt Verständnis und Toleranz für ihre Positionen– ohne sich selbst an derartige Maximen gebunden zu fühlen. Dies offenbarte u.a. der „Sturm auf den Reichstag“ unter Einschleusung von Störern der Bewegung mit Hilfe von AfD-Abgeordneten unter Einschüchterung von Abgeordneten. Höhepunkt dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung bildete die Instrumentalisierung des parlamentarischen Willensbildungsprozesses für ihre Zwecke, wenn sie von „Ermächtigungsgesetzen“ spricht und damit Parallelen zur NS-Diktatur zieht. Auch vor einer Inanspruchnahme von Narrativen als Widerstandskämpfer zu NS-Zeiten mit Vergleichen der Geschwister Scholl und Anne Frank unter Verharmlosung des Holocaust schreckt die Bewegung nicht zurück.
Besonders perfide mutet an, dass sie die Grundrechte „wiederherstellen“ wollen und sich dabei auf fragwürdige Rechtsverletzungen wie jene des § 7 Abs. 1 Nr. 10 Völkerstrafgesetzbuches berufen, um die pandemischen Maßnahmen als Verrat am Volk zu stigmatisieren und sich als Opfer einer Corona-Diktatur zu präsentieren. Diese Beispiele sollen als Anregung dienen, um sich die übergeordnete Frage zu stellen, ob Toleranz gegenüber Intoleranz unbeschränkte Geltung in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung beanspruchen kann.
Rechtliche Dimension und Grenzen – die freiheitlich-demokratische Grundordnung in der Rechtsprechung des BVerfG
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung nimmt in der Rechtsprechung des BVerfG seit dem SRP-Verbotsurteil von 1952 und dem KPD-Verbotsurteil von 1956 einen zentralen Standpunkt ein. Im SRP-Verbotsurteil definierte das BVerfG die freiheitlich-demokratische Grundordnung anhand des Art. 21 Abs. 2 GG als Ordnung, „[…] die unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. […]“. Dadurch wurde sie als eine der „obersten Grundwerte“ der Verfassung und damit als wertgebundene Ordnung konkretisiert. Im KPD-Verbotsurteil zog das BVerfG anschließend erstmals eine Grenze ab jener eine Partei verboten werden könne. Eine Partei sei demnach nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht anerkenne, sondern ihr müsse vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung zukommen. In der jüngeren Vergangenheit konkretisierte das BVerfG im NPD-Verbotsverfahren wann, bei der Zielsetzung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, eine Beeinträchtigung oder Beseitigung anzunehmen ist mit dem Kriterium des darauf „ausgehen“. Mithin ist auch eine Durchsetzungskraft zu fordern, dieses Ziel erfolgreich umzusetzen.
Danach solle die freiheitlich demokratische Grundordnung also auch Verfassungsfeinde aushalten können, so dass das GG die der freiheitlichen Demokratie innewohnende politische Toleranz in ihren Grenzen der Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 iVm Abs. 4 GG berücksichtigt.
Dahinter steht die Annahme, dass die geistige Auseinandersetzung und wechselseitige Kontrolle für alle gesellschaftlichen Kräfte den bestmöglichen Weg darstellen; der Kampf der Meinungen wirkt konstituierend und ist zugleich Lebenselement (vgl. Art. 5 GG). Dem GG liegt mithin der Grundsatz einer wehrhaften Demokratie zugrunde, nach welcher die Abwehrbereitschaft bereits auf Ebene der Verfassung ansetzt, indem Werte im demokratischen Willensbildungsprozess nicht angetastet werden dürfen. Das GG soll dabei (vermeintlich) in Abkehr zum relativistischen Freiheits- und Demokratieverständnis der WRV konzipiert worden sein, um die zentrale Schwäche der WRV in Form der Wertneutralität – die sich in formalen Funktionsprinzipien manifestierte, die materiell wie politisch inhaltlich aufgeladen werden konnte – zu begegnen.
Grundsatz der wehrhaften Demokratie auch für Feinde der Demokratie?
Die Grenze der freiheitlich demokratischen Grundordnung für Feinde der Demokratie ergibt sich, auch über Art. 21 GG hinaus, aus einer aktiv-kämpferischen, aggressiven Haltung, wodurch die reaktive Wirkung des GG betont wird.
Weitere Anhaltspunkte finden sich in den Regelungen der Art. 18 GG sowie Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 20, 1 GG. Dabei sieht Art. 18 GG einerseits ein Verfahren der Verwirkung (also den Verlust) bestimmter Grundrechte von Verfassungsfeinden auf, wenn diese zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung eingesetzt werden. Andererseits statuiert Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 20, 1 GG einen änderungsfesten Kern des GG in Form des Schutzes der obersten Prinzipien dieser Werteordnung als Signal- und Appellfunktion. Gemein ist der Normenkonzeption der ihnen anhaftende defensive Charakter, da der freiheitlich-demokratische Staat nicht von sich selbst aus gegen bspw. radikale Parteien vorgeht. Wehrhaft ist der Rechtsstaat nur in den Formen des Rechts und im Geiste des Rechtsstaats, den es zu verteidigen gilt; er setzt daher hohe Anforderungen an die Qualifikation verbotener Handlungsweisen, indem er kollidierenden Grundrechtsinteressen zu größtmöglicher Geltung gereichen möchte (sog. praktische Konkordanz).
Bezogen auf die Querdenker-Bewegung bedeutet dies folgendes: Sie profitieren von der Ausübung der ihnen zustehenden Grundrechte aus Art. 8 Abs. 1 und 5 Abs. 1 S. 1 GG, ohne aber gleichsam die Grundrechte anderer, wie Art. 2 Abs. 2 GG, zu achten. Fatalistisch betrachtet, läge daher die Annahme nahe, sich im Rahmen des, vom österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper geprägten, sog. Toleranz Paradoxons zu befinden. Nach diesem führt uneingeschränkte Toleranz mit Notwendigkeit zu ihrem eigenen Verschwinden. Denn durch die Ausdehnung der uneingeschränkten Toleranz auch auf die Intoleranten, ohne dass eine Gesellschaftsordnung bereit ist, die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. Doch diese Annahme erweist sich bei genauerer Betrachtung als Trugschluss. Eine Unterdrückung missliebiger, dem vermeintlich politischen Mainstream widersprechender Meinungen, erscheint womöglich sympathisch, entspräche allerdings eher der Vorgehensweise eines totalitären Regimes, welches entgegen des Konzeptes eines auf einer individuellen Freiheit fußenden Gemeinwesens arbeitet. Aus diesem Grund können absolute Dogmen, so wohlklingend sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, schon aufgrund ihrer Missbrauchsanfälligkeit nicht überzeugen. Infolgedessen endet die rechtsstaatliche Toleranz des GG dort, wo sie grundrechtlich geschützte Rechtsgüter anderer verletzt und demokratiefeindlich auftritt. Gleichwohl ist wahre Toleranz ohne Haltung nicht zu haben und verlangt die Bereitschaft, Nein zu sagen; die Grenzen hierfür gestaltet das GG anhand seines Wertekanons aus. Insbesondere die Möglichkeit der Teilnahme aller Bürger:innen am Prozess der Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk ist in einem demokratischen System unverzichtbar und konstitutiver Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Ergebnis und Fazit
Die wehrhafte Demokratie erscheint daher als verletzliches Konstrukt durch das bloße Aushalten entgegenstehender Meinungen. Gleichwohl zieht sie ihre Stärke aus der Verteidigung ihrer Grundwerte, die nicht zur Disposition stehen und die diese Garantien auch Verfassungsfeinden zukommen lässt. Sie schützt Intoleranz nicht bis zur Selbstaufgabe und lässt den Schutz dort enden, wo Feinde aktiv-kämpferisch demokratiefeindlich auftreten.
Schließlich mutet die Toleranz damit als das zugrundeliegende Narrativ des GG an, indem es – ob man möchte oder nicht – fremde Standpunkte akzeptiert und angehört werden müssen; die Möglichkeit bietet, zu widersprechen; die Existenzberechtigung anderer anerkannt und so der Raum für Toleranz geschaffen wird.
Die wehrhafte Demokratie ist daher in ihrer konkreten Ausgestaltung diskussions- und verbesserungswürdig, letztlich aber als alternativlos zu betrachten. Da Rechte nicht nach politischer Opportunität gewährt oder parteiisch instrumentalisiert werden dürfen, muss der Rechtsstaat seinen Gegnern Paroli bieten, ohne die eigenen Werte zu verraten.
Zitiervorschlag: Louise Kavacs, Toleranz gegenüber Intoleranz? – eine kritische Diskussion der „wehrhaften Demokratie“, JuWissBlog Nr. 21/2021 v. 26.02.2021, https://www.juwiss.de/21-2021/.
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