von HANNES RATHKE
Freihandelsabkommen der EU, namentlich TTIP und CETA, erscheinen manchen als die ultimative Kampfansage an die Demokratie in Europa. Diesen Stimmen muss die „Treaty Override“-Entscheidung des BVerfG auf den ersten Blick wie ein Heilsversprechen erscheinen: Neues Bundesrecht überspielt (grundsätzlich) altes Völkervertragsrecht. Die Demokratie lebt! Jedoch beruhen Freihandelsabkommen der EU gerade (auch) auf der gemeinsam legitimierten Entscheidung für eine gemeinsame Handelspolitik; aus deutscher Sicht auf der entsprechenden Öffnung der staatlichen Rechtsordnung. Kann die Annahme eines Rechts des nationalen Gesetzgebers zur Abkommensüberschreibung bei gemischten Abkommen in diesem Kontext mehr sein als bloße Donquichotterie?
Unbeschränktes „Overriding“ der Pastis-Tropfen?
Gemischte Abkommen der EU beruhen auf Zuständigkeiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Dementsprechend muss das Abkommen auf Unionsseite sowohl durch die EU als auch durch die Mitgliedstaaten geschlossen werden. Aus unionsrechtlicher Perspektive sind lediglich die in die EU-Zuständigkeit fallenden Teile eines gemischten Abkommens „integrierender Bestandteil“ des Unionsrechts, binden sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten und teilen als Unionsrecht den Rang und Vorrang des EU-Rechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten. Jenseits dieser Bereiche bestimmt sich die Wirkung eines gemischten Abkommens nach den Vorgaben des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten.
Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist der EU-Teil eines gemischten Abkommens aufgrund der integrationsgesetzlichen Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU mit Anwendungsvorrang ausgestattet. Demgegenüber richten sich die Rechtswirkung und der Rang der in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit fallenden Vertragsbestandteile – also die „Pastis-Tropfen„, die das Abkommen erst mitgliedstaatlich einfärben – nach der (ggf. erforderlichen) gesetzlichen Zustimmung gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Diese weist jenen Teilen den Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu – und unterwirft sie damit prima facie unbeschränkt dem vom BVerfG bekräftigten und auch vom Gesetzgeber bestätigten lex posterior-Grundsatz und somit dem Überschreibungsrecht des Gesetzgebers.
„Änderungssperren“ qua Unionsrecht?
Bei gemischten Verträgen sind jedoch Zweifel an einem unbeschränkten Abweichungsrecht angebracht. Einerseits findet die Revidierbarkeit von Entscheidungen früherer Gesetzgeber dort ihre Grenze, wo der betreffende Rechtsakt in den Anwendungsbereich einer Öffnungsklausel fällt, die eine differenzierte Festlegung des innerstaatlichen Rangs völkerrechtlicher Normen ermöglicht. Gemischte Abkommen stehen im Regelungszusammenhang mit Art. 23 GG, der die deutsche öffentliche Gewalt auf die europäische Integration festgelegt und ein „Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen [enthält], dem der unionsrechtliche Anwendungsvorrang entspricht„. Andererseits steht Deutschland bei gemischten Abkommen dem Vertragspartner gerade nicht alleine, sondern im Verbund mit der EU und allen weiteren Mitgliedstaaten gegenüber. Gemischte Abkommen verfolgen mittels der Überwindung von Kompetenzgrenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten gemeinsame Ziele und sind „auf gemeinschaftlichen Vollzug und gemeinsame Verantwortungsübernahme nach außen angelegt„. Insbesondere dann, wenn für den Vertragspartner nicht ersichtlich ist, welcher Vertragsteil von der EU und welcher von den Mitgliedstaaten verantwortet wird, sind die EU und ihre Mitgliedstaaten für die Vertragserfüllung im Außenverhältnis gesamtschuldnerisch verantwortlich.
Diese Verpflichtung „zur gesamten Hand“ bricht sich normativ Bahn im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV, der die EU und ihre Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Achtung und Unterstützung bei der Erfüllung der sich aus den Unionsverträgen ergebenden Aufgaben verpflichtet. Für den Bereich des auswärtigen Handelns der Union folgt aus diesem Grundsatz und der „Notwendigkeit einer einheitlichen völkerrechtlichen Vertretung“ der Union die Pflicht, „eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen sowohl bei der Aushandlung und beim Abschluss als auch bei der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen sicherzustellen„. Im Hinblick auf die einheitliche Verpflichtung sowie die regelmäßig gesamtschuldnerische Haftung der EU und ihrer Mitgliedstaaten könnte ein einseitiger mitgliedstaatlicher Treaty Override – unabhängig von der Frage, ob und in welchem Umfang die Überschreibung des nationalen Teils den normativen Gehalt des Vertrages insgesamt kompromittiert – Auswirkungen auf die unionsrechtlich gebotene Einheitlichkeit der völkerrechtlichen Vertretung haben und damit geeignet sein, mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu kollidieren. Doch worauf könnte eine Begrenzung demokratischer Handlungsspielräume des Gesetzgebers normativ gründen?
Drei Begrenzungsversuche
- Unionsrechtliches Verbot
Aus der unionsrechtlichen Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) könnte – integrationsgesetzlich legitimiert – ein unionsrechtliches Treaty-Override-Verbot resultieren, das mit dem Anwendungsvorrang auf den Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers wirkt. Gegen eine solche „unionsrechtliche Lösung“ spricht jedoch, dass sich ein Recht zur Abkommensüberschreibung auf die Bereiche in mitgliedstaatlicher Zuständigkeit bezieht. Ein unionsrechtliches Verbot entfaltete eine kompetenzbeschränkende Wirkung auf die nationale Rechtsordnung und stünde durch einen kompetenzverschiebenden Charakter im Widerspruch zum dem die „Verfassungsstruktur der Union“ prägenden Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Zudem überschritte ein solches Verbot die Grenzen des Art. 4 Abs. 3 EUV, dem nur die Funktion einer Zuständigkeitsausübungsregel zukommt. Zudem wäre auch die erforderliche Wirkung eines solchen Verbots auf einen Treaty Override fraglich, da das supranationale Recht „keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht entfaltet„. Schließlich würfe ein solches Verbot Konsistenzfragen auf. Auch der EU wird trotz völker- und unionsrechtlicher Bindungen ein Abweichungsrecht zugesprochen. Jedenfalls bei WTO-Abkommen besteht eine unionsrechtliche Bindung des europäischen Gesetzgebers nur insoweit, wenn das Abkommen unbedingten Charakter hat und unmittelbare Wirkung entfaltet. Andernfalls kann das dem Abkommen widersprechende Sekundärrecht unionsrechtskonform sein, da eine strikte Bindung der EU-Organe an die Abkommen „den Legislativ- und Exekutivorganen der Gemeinschaft den Spielraum [nehmen würde], über den die entsprechenden Organe der Handelspartner der Gemeinschaft verfügen“.
- „Hochzonen“ des mitgliedstaatlichen Vertragsteils
Alternativ ließe sich ein normhierarchisches „Hochzonen“ des jeweiligen Vertragsgesetzes erwägen: Aufgrund seines besonderen Näheverhältnis zum Unionsrecht könnte der mitgliedstaatliche Abkommensteil mit den integrationsgesetzlichen Ermächtigungen aufgeladen sein und durch die Öffnungsklausel des Art. 23 GG in Verbindung mit der integrationsgesetzlich legitimierten Pflichten aus Art. 4 Abs. 3 EUV einen übergesetzlichen Rang eignen. Gegen diesen Ansatz spricht, dass die Geltung und Anwendung des Unionsrechts in Deutschland zwar auf dem integrationsgesetzlichen Rechtsanwendungsbefehl beruhen, diesem jedoch selbst keine Verfassungsqualität zukommt. Gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zudem nur kraft und im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung, so erscheint für eine Beschränkung der legislativen Normsetzungsbefugnis erforderlich, dass der Integrationsgesetzgeber einer Art. 20 Abs. 3 GG entsprechenden, normhierarchieäquivalenten Bindung zugestimmt hat. In den Grenzen des Übertragenen und des Übertragbaren ist eine solche Beschränkung durch das gegebene Integrationsprogramm jedenfalls nicht ersichtlich.
- Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit
Schließlich könnte sich eine Änderungssperre aus dem Grundsatz der Europa(rechts)freundlichkeit ergeben. Dieser Grundsatz ist ein Begriff im Werden und man muss zu Recht konstatieren, dass sich derzeit nicht absehen lässt, „wie viel Direktionskraft dem Postulat der Europarechtsfreundlichkeit im Einzelfall innewohnt„. Als Korrelat des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) ist er jedenfalls bei der Prüfung des Integrationsprogramms „zu beachten und fruchtbar zu machen“, um zu gewährleisten, dass hoheitliche Handlungen aller Staatsgewalten europarechtsfreundlich ausgeübt werden. Drohen verfassungs- und unionsrechtliche Bindungen auseinanderzufallen, so vermag der Grundsatz ein „Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Wahrung demokratischer Legitimation und der Funktionsfähigkeit der Union […] einseitig zu Gunsten der Funktionsfähigkeit„. aufzulösen. In Parallelität zu dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, jedoch verstärkt durch Art. 23 GG, gebietet der Grundsatz der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes „den Organen der deutschen öffentlichen Gewalt, Verstöße gegen […] das Unionsrecht zu vermeiden, soweit dies im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts möglich ist„.Lässt sich ein Konflikt zwischen völkervertragsrechtlicher Bindung in EU-Angelegenheiten und Demokratieprinzip nicht durch den aus Art. 23 GG folgenden Anwendungsvorrang als abschließende Regel auflösen, so müssen – in Parallelität zu dem Ansatz der Richterin König – die widerstreitenden Interessen im Einzelfall zum Ausgleich gebracht werden. Im Rahmen der Abwägung kommt Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit aufgrund des verfassungsrechtlichen Integrationsauftrags besonderes Gewicht zu, so dass das Recht zur Abkommensüberschreibung dementsprechend zurückhaltend und unter Berücksichtigung der Interessen der europäischen Vertragspartner ausgeübt werden muss.
Viel Lärm um…Glasperlenspiele?
Die vorstehend skizzierten Erwägungen legen nahe, dass ein unbeschränktes Recht auf Treaty Override des nationalen Gesetzgebers bei gemischten Abkommen auch im Bereich eigener Kompetenzen auf Vorbehalte stoßen muss. Entsprechende Rücksichtnahmepflichten des nationalen Gesetzgebers resultieren primär aus dem verfassungsunmittelbaren Gebot der Europarechtsfreundlichkeit. Zugleich bleiben rechtspraktische Hürden, welche die vorstehenden Eingrenzungsversuche zumindest nivellieren: Die demokratische Handlungsfreiheit erfordert eine klare Zuständigkeitsabgrenzung im jeweiligen Abkommen. Der (trotz entsprechender Nachweispflichten der EU) regelmäßige Verzicht auf klare Kompetenzabgrenzungen in gemischten Verträgen zwingt zu einer einheitlichen Betrachtung des jeweiligen Vertrages – und verstärkt damit die Annahme einer weitergehenden Beschränkung parlamentarischer Handlungsfreiheit auch in eigenen Zuständigkeiten. Die völkervertragliche Amalgamierung unionaler und mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten – so berechtigt und notwendig sie integrationspolitisch auch sein mag – erschwert die Sicherung demokratischer Entscheidungsspielräume.
Der Autor ist Doktorand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter-Christian Müller-Graff) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg