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Von ANDREA KIEßLING
Wer ist meine Mutter? Wer ist mein Vater? Für die meisten Menschen stellt sich diese Frage nicht, sie wachsen bei ihren leiblichen Eltern auf. Kinder hingegen, die durch eine Samenspende gezeugt oder adoptiert wurden, wissen oftmals nicht, wer ihre biologischen Eltern sind. Als das OLG Hamm im Februar einen Arzt dazu verpflichtete, in seinen alten Akten nach dem Samenspender einer jungen Frau zu suchen, fand das Urteil große Aufmerksamkeit in den Medien. Auch ein vorletzte Woche im Bundestag verabschiedetes Gesetz bietet den Anlass, die Reichweite des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung näher zu untersuchen.
Die verfassungsrechtliche Grundaussage
In Deutschland ist das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung verfassungsrechtlich verbürgt – diesen Satz liest man so oder so ähnlich an vielen Stellen in der Literatur. 1989 hatte das BVerfG (1 BvL 17/87) entschieden, dass dieses Recht vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG umfasst ist. Was aber folgt aus dieser Aussage?
Die Kinder, die dieses Recht geltend machen wollen, sind von vornherein in einer schwachen Position: Zunächst einmal müssen sie überhaupt davon erfahren, dass ein oder beide rechtlichen Elternteile nicht genetisch mit ihnen verwandt sind. Dann wissen sie aber noch nicht, wer nun ihr leiblicher Vater oder ihre leibliche Mutter ist. Hierzu sind sie auf weitere Informationen ihrer rechtlichen Eltern, von Behörden oder von Reproduktionsmedizinern angewiesen. An dieser Stelle kommt nun das allgemeine Persönlichkeitsrecht ins Spiel und hier ist die Lage nicht mehr so eindeutig, wie es der Titel dieses Beitrags möglicherweise suggeriert. Dieses Recht wirkt nämlich unmittelbar nur gegen den Staat und dann wiederum auch nicht als Anspruch, sondern nur als Abwehrrecht: Laut BVerfG „verleiht [Art. 2 I iVm Art. 1 I GG] kein Recht auf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung, sondern kann nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen schützen.“ Dort, wo der Staat keine speziellen Regelungen für Auskunftsansprüche in Abstammungsangelegenheiten geschaffen hat, kann zwischen Privaten das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur über die zivilrechtlichen Generalklauseln berücksichtigt werden.
Die Entbindung unter Pseudonym – oder: Wer ist meine Mutter?
Die spezielle Regelung eines Auskunftsrechts enthält das vorletzte Woche verabschiedete Gesetz für den Fall der vertraulichen Geburt. Mit der vertraulichen Geburt soll die medizinische Versorgung von Mutter und Kind in den Fällen verbessert werden, in denen die Mutter ihr Kind nicht behalten will und es ansonsten ohne medizinische Begleitung zur Welt brächte (schon jetzt wird zwar in wenigen Fällen die anonyme Geburt von Krankenhäusern und Hebammen ermöglicht, aber ohne gesetzliche Regelung). Bei der vertraulichen Geburt wird die Schwangere unter einem Pseudonym behandelt. Es wird ein Herkunftsnachweis verwahrt, den das Kind mit Vollendung des 16. Lebensjahres grundsätzlich einzusehen darf. Das Einsichtsrecht wirkt aber nicht absolut: Die Mutter soll nach dem Gesetz „Belange“ geltend machen können, „die dem Einsichtsrecht entgegenstehen“ (der Gesetzgeber spricht von „befürchteten Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit, persönliche Freiheit oder ähnliche schutzwürdige Belange“ durch die Aufdeckung der Mutterschaft und die Kontaktaufnahme durch das Kind, die er aber nicht näher erläutert). Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung steht also unter einem Vorbehalt, die leibliche Mutter kann das Aufdecken ihrer Identität verhindern.
Die Zeugung mittels Samenspende – oder: Wer ist mein Vater?
Die Situation bei der Samenspende unterscheidet sich zunächst in einem wesentlichen Punkt hiervon: Es gibt keine eigene rechtliche Regelung des Auskunftsrechts. Das LG Essen als Vorinstanz z.B. zog § 810 BGB analog heran (im Ergebnis wurde der Anspruch aber verneint), das OLG Hamm stützte sich auf § 242 BGB. Die Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Kindes mit möglichen entgegenstehenden Interessen erfolgt also über eine zivilrechtliche Generalklausel. Das OLG entschied, dass Kindern, die mittels Samenspende gezeugt wurden, ein Auskunftsanspruch gegenüber dem Reproduktionsmediziner über die Identität ihres biologischen Vaters zusteht. Das Gericht wertete das Interesse der Klägerin als überwiegend an, es sei von „zentraler Bedeutung für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit“. Der Arzt und die Samenspender hätten sich auf die Folgen der Samenspende von Anfang an einstellen können.
Diese beiden Kernaussagen der Abwägung sind verallgemeinerungsfähig für alle Fälle der Samenspende. Trotzdem bleibt bei einer Lösung über § 242 BGB – also über „Treu und Glauben“ – ein gewisses Restrisiko für das Kind. So können in anderen Fällen z.B. die Interessen der Mutter und des rechtlichen Vaters in die Abwägung einzustellen sein (in diesem Fall hatten sie die Klägerin in ihrem Begehren unterstützt). Hier zeigt sich die Parallele zu dem Fall der vertraulichen Geburt: Im Ergebnis kommt es zu einer Abwägung durch ein Gericht; ein uneingeschränktes Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gibt es nicht.
Ein weiteres Problem des konkreten Falles war, dass über § 242 BGB der Arzt lediglich verpflichtet werden konnte, in seinen Unterlagen nachzuschauen. Er wurde zu Nachforschungen verpflichtet, er muss nun alte Akten einsehen und Mitarbeiter befragen. Falls die Unterlagen vernichtet wurden (Anfang der 1990er Jahre, als die Klägerin gezeugt wurde, gab es keine gesetzliche Aufbewahrungspflicht) und sich kein Mitarbeiter mehr erinnert, wird die Klägerin die Identität ihres biologischen Vaters nie erfahren. Seit 2007 gibt es nun eine 30jährige Dokumentationspflicht: Geregelt ist sie in § 15 Transplantationsgesetz, das gem. § 1a Nr. 4 auch für Gewebe gilt, worunter Sperma fällt.
Die Heranziehung bzw. Anwendbarkeit von § 242 BGB und des Transplantationsgesetzes überraschen – geht es doch um die Reproduktionsmedizin und in dem Zusammenhang um eine alte und weitverbreitete Methode zur Umgehung der Folgen einer Zeugungsunfähigkeit. Doch anders als z.B. in Österreich sind die Durchführung der Samenspende und mit ihr verbundene Folgefragen wie das Recht der Spenderkinder, die Identität ihres Erzeugers zu erfahren, in Deutschland nicht gesetzlich geregelt. Es wird nach den Richtlinien der Ärztekammern verfahren.
Wessen Interesse sollte vorgehen: das der Kinder oder das der Eltern?
Ob der Richter am Zivilgericht bei der Anwendung der Generalklausel oder der Gesetzgeber beim Schaffen einer speziellen Vorschrift für das Auskunftsrecht: zwischen dem Interesse des Kindes und des leiblichen Elternteils muss abgewogen werden. Zu mehr Rechtssicherheit würden klare Vorgaben führen. Dabei unterscheiden sich die Interessenlagen bei der vertraulichen Geburt und der Samenspende. Bei der vertraulichen Geburt ist das Kind schon gezeugt, aber noch nicht geboren. Hier muss der Schutz des Lebens und der Gesundheit des Kindes Vorrang vor allen anderen Interessen haben. Wenn Studien ergeben, dass ohne die Möglichkeit der vertraulichen Geburt Säuglinge in Einzelfällen sterben oder zumindest nicht optimal versorgt werden, und manche Mütter wiederum eine vertrauliche Geburt ablehnen, falls ihre Identität nicht für immer vertraulich bleibt, muss das Interesse Kindes, seine Herkunft zu erfahren, in Einzelfällen zurückstehen. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind später doch den Namen seiner leiblichen Mutter erfährt, bei der vertraulichen Geburt höher als bei der bislang in Einzelfällen praktizierten anonymen Geburt bzw. der Nutzung einer Babyklappe: In diesen Fällen bleibt die Mutter anonym; das Kind hat keine Chance, später etwas über die Mutter zu erfahren.
Anders liegt die Situation bei der Samenspende: Ein umfassendes Auskunftsrecht führte nicht zu Gesundheitsgefahren der Kinder, sondern zu dem Risiko, dass weniger Männer zur Spende bereit wären, weil sie sich z.B. Folgeansprüchen ausgesetzt sähen. Dadurch würde auf die Geburtenstatistik Einfluss genommen, Einzelne wären aber nicht gefährdet: Sie würden gar nicht erst gezeugt. Das wiederum schränkte jedoch die Möglichkeiten zeugungsunfähiger Paare ein. Ein Kompromiss wäre es, ein umfassendes Auskunftsrecht der Kinder mit den entsprechenden Dokumentationspflichten zu regeln, gleichzeitig aber weitergehende Folgen wie Unterhaltspflichten der Samenspender und Erbrechte der Kinder auszuschließen. Eine umfassende Regelung der Samenspende durch den Gesetzgeber (z.B. durch ein Fortpflanzungsmedizingesetz wie in Österreich) ist dringend erforderlich.
Hinweis: Zu dem Gesetzentwurf zur vertraulichen Geburt liegen folgende Berichte und Stellungnahmen vor: BT-Dr 17/13774, BT-Dr 13391.
Veröffentlicht unter CC BY NC ND 4.0.
* Der Beitrag erschien zuerst am 18. Juni 2013. Als im Jahr 2013 meistgeklickter Beitrag wird er anlässlich des fünfjährigen Bestehens des JuWissBlogs erneut veröffentlicht.