von DANIEL BENRATH
Das Grundgesetz bekennt sich in Art. 20 Abs. 1, 28 GG zur Republik. Gleichwohl bleibt die Republik als Argument neben Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie weitgehend blass. Nur vereinzelt wird die Republik stark gemacht, was sich dann mitunter einer scharfen Kritik ausgesetzt sieht. Die Dekonstruktion des Republikarguments im juristischen Diskurs erscheint also wenig gewinnbringend. Hier geht es vielmehr darum, wie der integrative Aspekt des republikanischen Gedankens als Argument fruchtbar gemacht werden kann.
Bisher konnte man sich in der verfassungsrechtlichen Diskussion darauf einigen, dass das Bekenntnis zur Republik monarchische Elemente ausschließt. Neben diesem formellen Verständnis werden mitunter materielle Inhalte mit dem Bekenntnis verbunden. Insbesondere das Gemeinwohl wird in unterschiedlicher Ausprägung als Gehalt der Republik vorgetragen. Auch Aspekte der Offenheit und der Integration werden mit dem Begriff der Republik verbunden. Dabei geht die wohl vorherrschende Linie in der Literatur davon aus, dass der Gehalt der Republik im Einklang mit anderen Verfassungsbestimmungen (Demokratieprinzip, Grundrechte) zu verstehen ist und jedenfalls im Wesentlichen in anderen Verfassungsbestimmungen aufgeht.
Die juristische Diskussion wird dadurch erschwert, dass die „Republik“ ein ähnlich schillernder Kampfbegriff wie die „Demokratie“ ist, der über die Jahrhunderte mit unterschiedlichen Vorstellungen aufgeladen wurde. Anders als der Demokratiebegriff, der im westlichen Verständnis einer liberalen, pluralen und repräsentativen Demokratie eine klare Kontur gefunden hat, auf die sich das Grundgesetz bezieht, ist für den Republikbegriff unklar, ob sich bestimmte materielle Inhalte abgrenzen lassen, die das Grundgesetz rezipiert. Unabhängig von der juristischen Diskussion zu Art. 20 Abs. 1 GG lassen sich gleichwohl Grundzüge des republikanischen Gedankens entwickeln. Diese Betrachtung lässt sich vom deutschen Verfassungskontext lösen. Ob sich die so entwickelten republikanischen Argumente für die verfassungsrechtliche Diskussion in Deutschland eignen, ist dann eigenständig zu diskutieren.
Der integrative Aspekt der Republik
Der Staat als öffentliche Angelegenheit steht schon sprachlich (res publica) am Ausgangspunkt der republikanischen Idee. Der republikanische Staat ist nicht die Angelegenheit einer einzelnen Person, unabhängig davon, ob diese sich als selbstherrlicher Gutsherr oder aber Diener des Gemeinwohls versteht. Ebenso wenig gehört der Staat einer bestimmten Dynastie oder sonstigen Personenmehrheit. Der Staat ist die Angelegenheit aller Bürger*innen. Dies läuft parallel zur demokratischen Legitimation aus dem Volk. Jeder Bürger und jede Bürgerin kann sich gleichermaßen einbringen; der Staat dient unparteiisch jeder Bürgerin und jedem Bürger.
Hieran knüpft der integrative Aspekt der Republik an. Da die Republik Angelegenheit aller Bürger*innen ist, ist niemand ausgeschlossen. Die Bürger*innen müssen sich ihre Stellung in der Republik nicht verdienen; sie ist unabhängig von Geburtsrechten, sozialem Ansehen oder wirtschaftlichem Beitrag. Jede Frau und jeder Mann, ob arm, reich, faul, klug, krank, merkwürdig oder langweilig, ob beliebt oder verachtet, hat den gleichen Anteil an Republik und Gemeinwesen. Maßgeblich sind allein die Bürgerrechte (die mit Bürgerpflichten verbunden sein können). Unter den Bürger*innen ist die Republik Garant und Medium einer umfassenden Integration des Gemeinwesens. Dem wohnt ein kritisches Moment inne, da es der Ausgrenzung der Bürger*innen, die den status quo und die Vorstellungen der (vermeintlichen) Mehrheitsgesellschaft durch ihre Positionen und Verhaltensweisen in Frage stellen, entgegensteht. Anders als im demokratischen Prozess kann insofern nicht zwischen Gewinnern und Verlierern unterschieden werden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es bedenklich, wenn etwa in der Türkei die Anhänger der Regierungspartei die Privilegien der alten republikanischen (sic!) Eliten allein für sich in Anspruch nehmen und darauf verweisen, diese im demokratischen Prozess abgerungen zu haben. Nicht weniger bedenklich erscheint (unabhängig von totalitären und rassistischen Untertönen), wenn ein Regierungschef im Wahlkampf allen, die nicht seinen Vorstellungen von „normalem“ Alltagsverhalten entsprechen, nahe legt, das Land zu verlassen. Im einen Fall erscheint der Staat als Beute, in der für den Verlierer keinen Platz bleibt. Im anderen Fall maßt sich jemand an, nach eigenen Maßstäben die guten, richtigen, erwünschten Bürger*innen abgrenzen zu können und den Rest allenfalls zu dulden. In beiden Fällen wird der Staat als öffentliches Gut einem Teil der Bürger*innen entzogen und die republikanische Integration konfrontativ verneint. Ähnlich bedenkliche Ansätze finden und entwickeln sich ebenfalls in anderen Staaten.
Auch in Deutschland werden mitunter Forderungen formuliert, die den integrativen Aspekt der Republik in Frage stellen. Gemeint sind hiermit Forderungen, die Debattenbeiträge und Verhaltensweisen, die als störend empfunden werden, aus der Öffentlichkeit bzw. den öffentlichen Diskurs drängen wollen. Der Übergang zwischen antirepublikanischer Stoßrichtung und Beitrag zu öffentlichen Angelegenheiten kann dabei verschwommen wirken. Kulturelle Errungenschaften gilt es zu verteidigen. Der öffentliche Raum ist gerade ein Forum für die Debatte über die Angemessenheit öffentlichen Verhaltens. Auch die Republik ist wehrhaft. Es kann daher angebracht sein, über Leitkultur, Anstand und zivilisatorischen Konsens zu diskutieren und für diese zu streiten. Mit derartigen Debatten jedoch die Forderung nach Ausschluss zu verbinden, ist mit dem republikanischen Grundgedanken kaum vereinbar. Es ist Sache derjenigen, die die entsprechenden Debatten vorantreiben, diese so abzugrenzen und auszugestalten, dass sie keinen antirepublikanischen Impuls enthalten.
Republik als Argument
Der integrative Aspekt der Republik hat einen deutlichen, normativen Gehalt. Grundsätzlich kann keiner Bürgerin und keinem Bürger die Teilhabe am Staat als öffentlicher Angelegenheit versperrt werden. Weder dürfen sie aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden, noch darf ihnen der Staat als öffentliches Gut verwehrt werden. Insbesondere darf der Zugang zum öffentlichen Raum nicht deshalb eingeschränkt werden, weil sich Andere von der Andersartigkeit ihrer Mitbürger*innen gestört fühlen (Stichwort: religiöse Bekleidung). Spiegelbildlich darf es keine staatliche Privilegierung hinsichtlich der republikanischen Teilhabe auf Grund von sozialem Wohlverhalten oder politischer Loyalität geben.
Dieser normative Gehalt lässt sich in der verfassungsrechtlichen Diskussion fruchtbar machen. Er geht in der gleichberechtigten demokratischen Teilhabe und den Grundrechten, insbesondere dem Gleichbehandlungsgrundsatz, auf und bezieht diese aufeinander. Ob er auch vom republikanischen Bekenntnis erfasst wird, kann insoweit offen gelassen werden (wobei er die formelle Abgrenzung zur Monarchie konsequent weiterentwickelt und eine entsprechende Lesart des Art. 20 Abs. 1 GG naheliegt). Jedenfalls stellt der integrative Aspekt der Republik ein fruchtbares eigenständiges Argument im verfassungsrechtlichen (und allgemeinen) Diskurs dar. Gegenüber einer Argumentation allein aus der Demokratie heraus blendet die Republik als Argument die Notwendigkeit der Mehrheitsbildung aus. Während sich aus demokratischer Perspektive bei der Entscheidungsfindung stets ein Teil der Bürger*innen gegen die anderen durchsetzen muss, um eine einheitliche Entscheidung zu gewährleisten, muss sich aus republikanischer Perspektive umstandslos das Ergebnis dieser Willensbildung unparteiisch auf alle Bürger*innen gleichermaßen beziehen. Gegenüber der Diskussion aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz versperrt dieses Argument einen zu einfachen Rückgriff auf die Unterschiede, die Anknüpfungspunkt der Ausgrenzung sein sollen. Zwar kann/muss Ungleiches ungleich behandelt werden. Eine Einschränkung der republikanischen Teilhabe einschließlich des Zugangs zur Öffentlichkeit bedarf jedoch einer eigenständigen besonderen Rechtfertigung, die ihrem Gewicht entspricht. Grundsätzlich ist diesbezüglich allein der staatsbürgerliche Status bzw. die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen das maßgebliche Abgrenzungskriterium. Die Republik als Argument schärft und vereinfacht so für den Kernbestand des integrativen republikanischen Gedankens die Diskussion.