von JAN ZERCHE
Für die einen sind sie der Katalysator der Wirtschaft 4.0, für die anderen ein Bremsklotz, der Startups am „Erwachsenwerden“ hindert: Regulatorische Sandkastenmodelle. Dieses neue Aufsichtskonzept hat in der Finanzbranche weite Kreise gezogen, nachdem sich die britische Financial Conduct Authority als erste Aufsichtsbehörde im Europäischen Wirtschaftsraum einem ungewöhnlichen Projekt öffnete: 18 Startup-Unternehmen durften unter regulatorisch privilegierten Ausgangsbedingungen Finanzdienstleistungs-Apps auf der Grundlage neuer Technologien entwickeln. Der nachfolgende Beitrag nimmt einen bisher vernachlässigten Aspekt in Augenschein: die subventions- und beihilferechtliche Dimension.
Innovationstreiber oder trojanisches Pferd für den Wettbewerb?
FinTech-Startups müssen sich durch ein Dickicht regulatorischer Anforderungen kämpfen (Erlaubnispflichten nach § 32 Abs. 1 KWG, § 10 Abs. 1 ZAG, § 20 KAGB, etc.), bevor sie sich auf neuen Märkten platzieren dürfen. Das hat bisweilen den nachteiligen Effekt, dass innovative Geschäftsideen junger Unternehmen gegenüber den tradierten Konzepten der Konkurrenz, welche mit einer stärkeren aufsichtsrechtlichen Expertise aufwarten kann, im Keim erstickt werden. Den Anstoß für eine zielgerichtete Innovationsförderung könnten sogenannte „regulatorische Sandkästen“ geben. Es handelt sich dabei um zeitlich und räumlich begrenzte Bereiche, in denen einzelne Akteure ihre Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle mit der Unterstützung einer Aufsichtsbehörde erproben können (Bericht der European Supervisory Authorities, S. 5). Zu diesem Zweck könnten gegebenenfalls auch gesetzliche Anforderungen an neue Unternehmensmodelle abgemildert oder in ihrer Durchsetzung eingeschränkt werden (Basler Ausschuss, Implications of FinTech developments for banks and bank supervisors, S. 41).
Regulatorische Sandkästen erleichtern Stakeholdern aus Wirtschaft und Politik den Zugang zu Technologien wie etwa der (durch die virtuelle Währung Bitcoin bekannt gewordenen) Blockchain-Technologie oder digitalen Plattformen wie Uber oder Amazon (vgl. ESAs-Bericht, S. 33). Sie können außerdem dabei behilflich sein, Innovationen am eigenen Wirtschaftsstandort zu binden und dadurch zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion um wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorbehalte zu machen. Die deutsche Finanzmarktaufsicht steht solchen Neuheiten allerdings kritisch gegenüber. Bedenken gegen Sandkastenmodelle ergeben sich vor allem aus der Erwägung, dass diejenigen Unternehmen, die nicht in den Genuss der privilegierten Aufsicht kommen, möglicherweise wirtschaftliche Nachteile erleiden. Während sich aus subventionsrechtlicher Perspektive vordergründig Fragen zur Vereinbarkeit mit den Grundrechten Dritter stellen (vgl. BVerwG 3 B 11.08, Rn. 26), schwebt das Damoklesschwert des unionsrechtlichen Beihilfeverbots über dem Innovations-„Sandkasten“.
Risiko für die ungestörte Berufsausübung: Touche pas à mon poste!
Für konkurrierende Unternehmen, die sich nicht mit Schippchen und Eimer im Sandkasten vergnügen dürfen, sind Sandkasten-Ansätze ein Dorn im Auge. Vor allem die ausgefalleneren Spielarten, die eine vollständige oder partielle Entlastung von regulatorischen Pflichten postulieren, dürften bei den „Großen“ auf massiven Widerstand stoßen. Ein Widerstand gegen eine ungleiche Teilhabe am Wettbewerb, die sich nicht zuletzt auf das Recht auf die freie, ungestörte Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) auswirken könnte. Von einem Eingriff kann aber erst die Rede sein, wenn die regulatorische Bevorteilung in einem engen Zusammenhang mit der Berufsausübung steht, sodass sie eine berufsregelnde Tendenz hat (BVerfGE 70, 191 [214]). Zwar lässt sich kaum leugnen, dass eine Regelung, die einen Marktteilnehmer von berufsspezifischen Pflichten befreit, einen dichten Berufsbezug aufweist. Damit allein ist es aber nicht getan: Die mit der Bevorteilung verknüpften mittelbaren Auswirkungen müssen auch dazu geeignet sein, einen bestimmbaren Kreis von Wettbewerbern in ihrer beruflichen Betätigung tatsächlich zu behindern (BVerfGE 46, 120 [137 f.] und 47, 1 [21]). Sofern Sandkastenmodelle jedoch auf einen eng umrissenen Markt und für eine begrenzte Zeit konzipiert sind, dürfte sich die Marktposition konkurrierender Produkte und Dienstleistungen im Großen und Ganzen nicht erheblich verschlechtern. Innovative Geschäftsmodelle nämlicher Startups ergänzen lediglich das wettbewerbliche Geschehen, womit potenzielle Konkurrenten in liberalisierten Märkten ohnehin stets rechnen müssen. Da es Sandkasten-Ansätzen insofern bereits an der Eignung fehlen dürfte, andere Marktteilnehmer in ihrer Berufsfreiheit zu beeinträchtigen, ist Art. 12 Abs. 1 GG wohl kein Spielverderber.
Gleicher Business Case, gleiche Chancen?
Allerdings handelt es sich bei der Gewährung aufsichtsrechtlicher Spielräume um eine vorteilhafte Behandlung, die nur ausgewählten modernen Geschäftsmodellen zugutekommt. Dass tradierte Unternehmen dabei stets das Nachsehen haben, wirft die Frage auf, ob damit nicht eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) einhergeht. Eine Ungleichbehandlung ist indes bereits gerechtfertigt, wenn ein sachlicher Beweggrund für eine Differenzierung der Unternehmen vorliegt (BVerfGE 55, 72 [90]). Das primäre Ziel regulatorischer Sandkastenmodelle ist es, Innovationen als Grundbedingung einer zukunftsfähigen Wirtschaft zu fördern. Das stellt einen hinreichenden sachlichen Beweggrund für eine Differenzierung dar, zumal die öffentliche Hand im Bereich der Wirtschaftsförderung mit einem weitgehenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum aufwarten kann. Die äußerste Grenze markiert eine Verdrängungs- oder Auszehrungssituation im relevanten Markt (vgl. BVerwG I C 24.69, Rn. 23, und 6 C 31.08, Rn. 25), die nicht überschritten wird, sofern sich die geförderten Geschäftsmodelle an die vorgegebenen räumlichen und zeitlichen Grenzen halten. Treten bei der Vergabe aufsichtsrechtlicher Erprobungsräume zudem sachliche Differenzierungsmerkmale hinzu, wie etwa transparente und objektive Zulassungskriterien, lässt dies die Ungleichbehandlung insgesamt legitim erscheinen.
Endgegner: EU-Beihilfeverbot
Schließlich müssen Sandkastenmodelle auch einer beihilferechtlichen Prüfung nach Art. 107 ff. AEUV standhalten. Da die staatliche Einrichtung von deregulierten Experimentierräumen einen selektiven Vorteil darstellt und an das Vorliegen einer Wettbewerbsverfälschung und einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten ein niedriger Maßstab anzulegen ist (EuGH, Rs. C-409/00, Rn. 74), stehen die Sterne des unionsrechtlichen Wettbewerbsregimes deutlich schlechter für regulatorische Sandkastenmodelle. Womöglich um das vielversprechende Potenzial dennoch nutzen zu können, sprach sich die Europäische Kommission bereits dafür aus, einheitliche Kriterien für regulatorische Sandkästen festzulegen und regte an, einen die Europäische Union umfassenden Rahmen für die Einführung neuer Technologien zu entwickeln (Mitteilung vom 08.03.2018, S. 10). Daraufhin stellten die European Supervisory Authorities am 07.01.2019 in einem gemeinsamen Bericht zu Innovationsfördermechanismen zwar erste „Best Practices“ für „Regulatory Sandboxes“ auf, ließen dabei aber noch zahlreiche Fragen unbeantwortet – beispielsweise wie sich Sandkastenmodelle in das EU-Beihilferegime einhegen lassen könnten.
Sandkastenmodelle als „Prüffall“?
Erste Gedanken zu den aufgeworfenen Konfliktlagen im öffentlichen Wirtschaftsrecht offenbaren, dass sich vor allem das europäische Beihilferecht als Hemmschuh für regulatorische Sandkastenmodelle darstellen könnte. Bevor deshalb die Maxime „same business, same risks, same rules“ zugunsten von Innovation und neuer Technologie umgeschrieben werden kann, gilt es die noch zahlreichen offenen Problematiken zu durchleuchten: Welche wettbewerbspolitisch sinnvollen Zulassungskriterien sollten die begünstigten Geschäftsmodelle erfüllen? Wie sind die räumlichen und zeitlichen Grenzen regulatorischer Sandkastenmodelle zu bestimmen? Und wie können die Aufsichtsbehörden einen effektiven Verbraucherschutz gewährleisten? Klare Spielfeldbegrenzungen gehören sicherlich zur Beantwortung dieser Fragen, dennoch sollten Gesetzgeber und Regulatoren das Potenzial visionärer Ansätze für eine zeitgemäße Aufsichtspraxis nicht aus den Augen verlieren.
Zitiervorschlag: Zerche, Same business, same risks… different rules?, JuWissBlog Nr. 43/2019 v. 26.3.2019, https://www.juwiss.de/43-2019/
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