Dürfen Apotheker*innen die „Pille danach“ verweigern?

von MARCEL BODEWIG

Ein Berliner Apotheker weigerte sich, die „Pille danach“ zu verkaufen und berief sich dabei auf seine religiösen Überzeugungen. Der Fall wurde vor kurzem vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden. Der gesetzliche Versorgungsauftrag der Apotheken ist ein hohes Gut und stellt sicher, dass Kund*innen ausreichend medizinisch versorgt werden. Dieser sollte auch durch Auslegung der Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigt werden.

Der Versorgungsauftrag der Apotheken

Ein Apotheker hat sich über Jahre wiederholt verweigert, die „Pille danach“ an Kund*innen seiner Apotheke abzugeben oder überhaupt zu bevorraten. Er berief sich dabei auf seine Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, da er durch die Abgabe nicht „an der Tötung von entstandenem Leben“ mitwirken wolle. Die Apothekerkammer Berlin hat daraufhin ein berufsrechtliches Verfahren gegen den Apotheker eingeleitet, weil er dem pharmazeutischen Versorgungsauftrag nicht nachkomme. Der betroffene Apotheker wird von der Organisation „ADF International“ unterstützt, einer christlichen Organisation, die sich gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und gegen LGBTQI+-Rechte einsetzt. Sie wird von dem US-Thinktank SPLC als „Hate Group“ bewertet und ist in Deutschland insbesondere im Bereich der strategischen Prozessführung aktiv.

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 26. Juni 2024 – OVG 90 H 1/20) hat entschieden, dass der Apotheker die Ausgabe der „Pille danach“ nicht aus Gewissensgründen verweigern darf. Gemäß § 1 Apothekengesetz sind Apotheken dazu verpflichtet, die „ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung der Bevölkerung“ sicherzustellen. Diese öffentlich-rechtliche Pflicht gilt auch für die „Pille danach“, welche in Deutschland ein apothekenpflichtiges Medikament darstellt, das auch ohne Rezept erworben werden kann. Der Apotheker könnte sich zumindest dem Gewissenskonflikt entziehen, wenn er anderweitig im pharmazeutischen Bereich aktiv ist. Dies beinhaltet berufliche Alternativen zum Führen einer öffentlichen Apotheke.

Zusätzlich zu der Weigerung der Abgabe hat der Apotheker Kund*innen Zettel zugesteckt, auf denen er mit Verweis auf seine christlichen Überzeugungen von der „Pille danach“ abgeraten hat. Teilweise hat er ähnliche Hinweise zu Verhütungsmethoden auch an Kund*innen nach Hause geschickt. Der Apotheker wurde bereits erstinstanzlich von dem Berufsgericht für Heilberufe am Verwaltungsgericht Berlin verwarnt. Damals entschied das Gericht jedoch für den Apotheker. Es hielt fest, dass keine Berufspflichtverletzung des Apothekers vorliegt, da er sich auf seine Religions- und Gewissensfreiheit berufen konnte. Die negative Religionsfreiheit der Kund*innen beinhalte zwar die Freiheit, Handlungen eines anderen Glaubens fernzubleiben. Dabei muss es sich jedoch um eine staatlich geschaffene Lage handeln, dessen Ausweichen „aussichtslos“ sein. Kund*innen könnten dem Gericht zufolge einfach andere Apotheken aufsuchen.

Die Grenzen der Gewissensfreiheit

Ein Recht zur Verweigerung der Abgabe von Medikamenten aus Gewissensgründen ist in Deutschland einfachgesetzlich nicht geregelt. Auch die Berliner Berufsordnung für Apotheker kennt ein solches Recht nicht. Der Apotheker kann sich somit nur auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen. Die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG setzt zunächst eine „ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung“ voraus, die der Einzelne „in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“. Eine solche liegt beim betroffenen Apotheker zweifellos vor. Er vertritt über lange Zeit und mit unterschiedlichen Mitteln seine Position und tut sie öffentlich kund.

Dieses Grundrecht wird jedoch über verfassungsimmanente Schranken beschränkt. Dies sind insbesondere die Rechte derer, die durch den Apotheker keine „Pille danach“ erhalten haben. Menschen können in unterschiedlichen Situationen auf dieses Medikament angewiesen sein. Für viele handelt es sich um persönliche Krisensituationen. Kund*innen müssen schnell handeln, da das Medikament nur für eine kurze Zeit wirksam ist. Gerade die Verweigerung bei einer Notdienstapotheke kann erhebliche finanzielle und zeitliche Ressourcen erfordern, die nicht immer vorhanden sind. Auch in diesen Fällen muss die Versorgung unabhängig von der Situation der Kund*innen sichergestellt werden.

Die Betrachtung der Berufsfreiheit

Das Recht auf die freie Ausübung des Berufes aus Art. 12 GG könnte ebenfalls beeinträchtigt sein. Der Apotheker ist gesetzlich verpflichtet, die „Pille danach“ vorrätig zu halten und zu verkaufen. Bei der Einschränkung handelt es sich um eine Berufsausübungsregelung, es werden nur die Modalitäten des Berufes festgelegt. Apotheker*innen als Ausübende eines „staatlich gebundenen Berufes“ sind erhöhten Einschränkungsmöglichkeiten durch staatliche Regeln ausgesetzt. Die gesetzliche Pflicht soll die pharmazeutische Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Dafür kann der Gesetzgeber verlangen, dass alle zugelassenen apothekenpflichtigen Präparate verkauft werden müssen. Diese dem Allgemeinwohl dienende Regelung ist auch nicht unverhältnismäßig, sodass keine Berufsfreiheitsverletzung vorliegt.

Die Sicherstellung der Versorgungslage

Noch in der Vorinstanz hat das Gericht geurteilt, dass die Versorgungslage bei nur einem verweigernden Apotheker nicht eingeschränkt wird. Immerhin gibt es in Berlin über 800 Apotheken, die meisten nur wenige Straßen voreinander entfernt. Das Argument ist aber sehr gefährlich. Das Recht auf pharmazeutische Versorgung darf nicht durch Überlegungen eingeschränkt werden, ob noch andere Apotheken vorhanden sind. Auch wenn ein einzelner Apotheker in einer Großstadt diese nicht gefährden würde, sieht es im ländlichen Raum ganz anders aus. Wie soll gerichtlich festgelegt werden, welche Distanz und Versorgungsdichte noch in Ordnung ist? Müssten einige Apotheker*innen dann verpflichtet werden und andere nicht? Das Ergebnis ist die komplette Aufhebung der gesetzlichen Versorgungssicherheit.

Hier bietet sich ein Vergleichen zur reproduktiven Gesundheitspraxis in Deutschland an. Im Gegensatz zu Apotheken ist bei Arztpraxen und Kliniken das Recht, nicht an bestimmten medizinischen Handlungen, wie etwa Schwangerschaftsabbrüche, mitzuwirken, anerkannt. Soweit nicht medizinisch indiziert, müssen Ärzt*innen und Krankenhäuser Schwangerschaftsabbrüche nicht anbieten. Dies hat drastische Folgen. Von 2003 bis 2018 hat sich die Anzahl der Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, in Deutschland um 40% reduziert. Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte etwa durch radikale Abtreibungsgegner*innen unter Druck gesetzt oder an ihrer Arbeit gestört. In einigen Teilen Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche nicht möglich, und schwangere Personen müssen weite Wege auf sich nehmen.

Dieser Vergleich lässt erkennen, dass die Versorgungssicherheit ein hohes Gut ist. Insbesondere auch bei Apotheken muss eine ähnliche Entwicklung verhindert werden. Der Zugang zu pharmazeutischer Versorgung darf nicht gefährdet wird. Auch deshalb kommt es darauf an, dass die gesetzlichen Regelungen zur Versorgung der Gesellschaft nicht ausgehöhlt werden.

 

Zitiervorschlag: Bodewig, Marcel, Dürfen Apotheker*innen die „Pille danach“ verweigern?, JuWissBlog Nr. 52/2024 v. 14.08.2024, https://www.juwiss.de/52-2024/.

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Apothekenrecht, Empfängnisverhütung, Gewissensfreiheit, Marcel Bodewig, Religionsfreiheit, reproduktive Rechte
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