Die Kultur ist systemrelevant! Die aktuelle Rechtslage und die Idee eines neuen Grundrechts

von BENJAMIN STIBI

„Die Kultur gehört zur Identität unseres Landes“, konstatierte der Bundeswirtschaftsminister Ende Oktober 2020. Ein kürzlich ergangener Eilbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15.04.2021 (20 NE 21.919) zeigt jedoch die Diskrepanz zwischen der Bedeutung der Kultur für die Allgemeinheit und ihrer verfassungsrechtlichen Anerkennung auf und dient somit zugleich als Erklärung, weshalb es für die Kulturschaffenden auch nach einem Jahr Pandemie immer noch keine richtige Perspektive gibt.

Ist das Kunst oder kann das weg?

Gegen das in §§ 5, 23 Abs. 1 der 12. BayIfSMV vorgeschriebene generelle Veranstaltungsverbot und die Schließung von Kultureinrichtungen hatten 23 Kulturschaffende und Mitglieder der Initiative „Aufstehen für die Kunst“ geklagt. Ihrer Ansicht nach stellt das Kulturveranstaltungsverbot einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Kunst- und Berufsausübungsfreiheit sowie im Hinblick auf die privilegierenden Regelungen zu Gottesdiensten und Versammlungen einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz dar.

Während der BayVGH anerkannte, dass die gerügten Maßnahmen bei Berufsmusiker*innen aufgrund der dauerhaften wirtschaftlichen Einbußen zu einer schweren Beeinträchtigung der Berufsausübungsfreiheit führen würden, sah er einen Verstoß gegen die Kunstfreiheit als voraussichtlich nicht bzw. höchstens mittelbar gegeben an: Durch das Kulturveranstaltungsverbot werde kein bestimmter künstlerischer Inhalt, sondern lediglich eine mögliche Form der Kunstdarbietung in Gestalt der Bühnenaufführung vor Publikum untersagt. Auch wenn hierin sicher ein wesentlicher Aspekt der musikalisch-künstlerischen Betätigung liege, so blieben damit doch die Entstehungsmöglichkeiten (Werkbereich) und anderweitige Verbreitungsmöglichkeiten (Wirkbereich) unangetastet. Hinsichtlich der vorgebrachten Ungleichbehandlungen folgte der Senat der Argumentation des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, dass es bei Art. 4 GG und Art. 8 GG jeweils um eine gemeinschaftliche Grundrechtsausübung der Gottesdienstbesucher*innen bzw. Demonstrationsteilnehmer*innen gehe, wohingegen die Besucher*innen von Kulturveranstaltungen nicht selbst Träger*innen des Grundrechts der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG und die Künstler*innen wie dargelegt (nur) in Teilbereichen ihrer Kunstfreiheit betroffen seien. Der Aspekt der (vorübergehenden) „Verzichtbarkeit“ kultureller Live-Angebote sei insoweit nicht etwa unsachlich. Wenig überraschend wurde der Eilantrag ohnehin im Rahmen einer Folgenabwägung abgelehnt.

Zusammenfassend hält der BayVGH durch das Kulturveranstaltungsverbot den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG höchstens für die Kulturausübenden, nicht aber für die Kulturgenießenden, eröffnet und auch nur dann, wenn in der flächendeckenden Sperrung der künstlerischen Wirkungsstätten eine faktische Beeinträchtigung mit eingriffsgleicher Wirkung gesehen werden kann.

Bestandsaufnahme der deutschen Kulturverfassungen

Weitergedacht bedeutet das eine verfassungsrechtliche Privilegierung von Berufskulturschaffenden gegenüber Laienkulturschaffenden sowie von Schaffenden gegenüber Rezipierenden, obwohl alle gleichermaßen zum kulturellen Leben beitragen. Dass Kulturliebhabende, die selbst nicht auf der Bühne, sondern im Publikum sitzen, sich dabei nur noch auf das Auffanggrundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit berufen können sollen, und Kulturveranstaltungen auch aus Sicht der Schaffenden zu einer bloßen beruflichen Tätigkeit herabgewürdigt werden, wird der gesellschaftlichen Bedeutung der Kultur im selbsternannten „Land der Dichter und Denker“ nicht gerecht.

Dabei lässt sich unserer Verfassungsordnung bereits ein kulturstaatlicher Förderauftrag bzw. zumindest ein Selbstverständnis als Kulturstaat entnehmen. Schließlich vermittelt die Kultur Werte und erzeugt ein Wertebewusstsein, formt so das individuelle und gesellschaftliche Verhalten und beeinflusst dadurch auch die Rechtsordnung. Während sich die geschriebene „Kulturverfassung“ des Grundgesetzes bisher im Wesentlichen auf die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Kunst beschränkt (aber immerhin den Art. 5 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährleistet), enthalten viele Landesverfassungen weitergehende Vorschriften zum Schutz bzw. der Pflege von Kunst und Kultur (z. B. Art. 11 LV Sachsen).

Ein subjektives Abwehr-/Teilhaberecht gegenüber dem Staat, wie beispielsweise in Art. 27 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert, ergibt sich indes daraus noch nicht. Ließe sich ein solches „Grundrecht auf freie Kulturausübung und -genuss“ jedoch aus den bereits anerkannten Grundrechten ableiten?

Glaube + Kunst + Persönlichkeit + X = Kultur?

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützen das Interesse der Grundrechtsträger*innen daran, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen zu haben und zu betätigen. Als Weltanschauung können gedankliche Systeme, die das Weltgeschehen in großen innerweltlichen nicht-transzendentalen Zusammenhängen werten, verstanden werden. Laut einer Europabarometer-Umfrage von 2018 bezeichnet sich jeder vierte Deutsche als „nicht gläubig, Agnostiker oder Atheist“ Für viele dieser Menschen tritt die Kultur an Stelle der Religion. Die Kultur ist von bloßen Meinungen oder politischen Überzeugungen dadurch abzugrenzen, dass sie alle Bereiche des menschlichen Lebens durchdringt und dem Individuum das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem abstrakten Kollektiv verleiht, das sich nicht klar abgrenzen oder beschreiben, sondern nur erleben lässt. Sie ähnelt einer Religion oder einer Weltanschauung in ihrem umfassenden Geltungsanspruch und ihrer Tiefgründigkeit.

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schützt den Werk- und Wirkbereich der Kunst. Bei der Kultur kann ebenfalls zwischen einem Werk- und Wirkbereich (der aktiven Kulturschaffenden) unterschieden werden. Darüber hinaus kommt dem Genussbereich (der Kulturliebhabenden) eine besondere Bedeutung zu. Alle drei sind aufgrund des ganzheitlichen Gemeinschaftsanspruchs der Kultur untrennbar miteinander verwoben: Anders als Kunst kann der Mensch Kultur deswegen schon nicht ohne Kommunikation nach und mit außen erschaffen. Kultur kann auch nicht alleine, sondern nur mit Mitmenschen genossen werden. Sicherlich mögen Teile der Kultur von der Kunstfreiheit erfasst sein, doch man würde der Kultur nicht gerecht werden, wenn man sie auf die Kunst beschränken würde. Dieses Problem war auch dem Parlamentarischen Rat bekannt. Ein Entwurf des Art. 5 GG lautete:

„Das kulturelle Leben ist der Gewalt des Staates nicht unterworfen. Der Staat gewährt ihm Schutz und nimmt an seiner Pflege teil. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“

Nur der letzte Satz wurde schließlich beibehalten und die Kunstfreiheit somit in ein (zu) enges Verhältnis zur Meinungsfreiheit gestellt und auf die klassischen „kommunikativen“ Künste begrenzt. Eine Orchesterprobe wäre wohl unproblematisch Kunst. Dagegen wenn Freund*innen in Privaträumen musizieren, dabei der Gemeinschaftssinn im Vordergrund steht und keine spätere Aufführungsintention vorhanden ist, wird das eher nicht als Kunst, sondern als Kultur zu bezeichnen sein. Ebenso verhält es sich mit Kartenspielen, „Lifestyle-Kollektivsport“ wie Skateboarden, Gasthaus-/Kinobesuchen, Festivals oder der Ausübung traditioneller Bräuche.

Aufgabe des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist es, Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen, grundrechtlich zu umfangen. Für Kultur ist kein Kunstwerk als Ergebnis, sondern die bloße Betätigung entscheidend. Die charakterbildende Wirkung auf den Kulturschaffenden und –genießenden steht gleichrangig mit, wenn nicht sogar vorrangig über dem Kommunikationsaspekt. Kultur kann als Grundbedingung für die Persönlichkeitsentfaltung verstanden werden.

Zusammengefasst lassen sich bereits Bezüge zur Kultur in diesen anerkannten Grundrechten erkennen. Deren sachlicher Schutzbereich ist jedoch durch Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Fokus auf andere Rechtsgüter begrenzt, sodass die Kulturfreiheit bisher von keinem Grundrecht in ihrer Vollständigkeit erfasst wird. Daher benötigt es ein eigenes „Grundrecht auf Kulturausübung und –genuss“, das inhaltlich Art. 27 Abs. 1 AEMR entspricht und entweder von der Rechtsprechung entwickelt oder vom Verfassungsgeber ergänzt wird.

Aufstehen für die Kultur

Aktuell läuft die an den Verfassungsgeber gerichtete Petition „Kultur ins Grundgesetz“, die neben staatlichen Schutz- und Förderpflichten auch ein solches Grundrecht fordert. Von Kritiker*innen wird entgegnet, dass aufgrund der schwierigen Definition von „Kultur“ (auch in Abgrenzung zur Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG) der Schutzbereich dieses Grundrechts uferlos ausgedehnt werden würde. Definitionsschwierigkeiten sind dem Recht jedoch immanent und lassen sich durch Rechtsprechung und -wissenschaft lösen. Jedenfalls müssten sich aber Legislative und Judikative bei der Definition von Kultur sehr tolerant zeigen, um keine Konflikte mit Art. 3 und 4 GG entstehen zu lassen. Als Kritikpunkt wird auch vorgetragen, dass Kultur in Deutschland zum größten Teil Aufgabe der Bundesländer sei. Das mag für die Förderpflicht relevant sein, aber nicht für den Abwehrrechtsaspekt. Denn die Pandemie hat gezeigt, dass es Situationen gibt, in denen der Bundesgesetzgeber (zumindest nach weit verbreiteter Auffassung) die Kompetenz hat, das Kulturleben zum Stillstand zu bringen.

Die Diskussionen um ein neues Grundrecht sind jedenfalls zu begrüßen, da sie uns zwingen, uns damit auseinanderzusetzen, welchen Stellenwert die Kultur in unseren Leben hat. Auch Karlsruhe hat inzwischen Gelegenheit erhalten, sich intensiver mit der grundrechtlichen Relevanz der Kultur zu beschäftigen: „Aufstehen für die Kunst“ hat Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des BayVGH eingereicht und auch der Verfasser dieses Beitrags als leidenschaftliches Laienorchestermitglied hat die hier erfolgten Ausführungen in einem Eilantrag gegen den § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 IfSG vorgebracht (1 BvR 776/21).

Zitiervorschlag: Benjamin Stibi, Die Kultur ist systemrelevant! Die aktuelle Rechtslage und die Idee eines neuen Grundrechts, JuWissBlog Nr. 53/2021 v. 20.05.2021, https://www.juwiss.de/53-2021/.

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