Von MATHIAS HONER und TOBIAS RUDLOFF
Wer kennt sie nicht: die Schokoriegel und Kaugummis an der Supermarktkasse. Wie oft greifen wir zu, obwohl wir es eigentlich nicht wollten. Was Supermarktbetreiber hier anwenden, wird in der Regulierungstheorie auch als Nudging bezeichnet. Die deutsche Übersetzung trifft ihre Bedeutung recht gut: Ein sanfter Anreiz, ein leichter Stups. Davon macht auch der Staat immer häufiger Gebrauch. Anstelle eines Ge- oder Verbots tritt ein sanfter Stups. Auf diese Weise können grundrechtliche Freiheit formal gewahrt und Regulierungserfolge subtil vergrößert werden. Letzteres verspricht sich der Staat vor allem dadurch, indem er defizitäre Verhaltensmuster des Menschen ausnutzt. Denn zumindest in Alltagssituationen verhält sich der Mensch typischerweise träge, uninformiert und widersprüchlich. Das zeigen die Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie. Der rationale Nutzenmaximierer, der seine eigenverantwortlich gewählten Präferenzen kühl, kalkulierend und konsequent verfolgt, ist zwar für bestimmte wissenschaftliche Betrachtungen ein notwendiges, weil komplexitätsreduzierendes Modell, entspricht jedenfalls in Alltagssituationen aber nicht der Realität. Der Homo oeconomicus entpuppt sich an vielen Stellen also eher als Homer Simpson.
Regulierung mithilfe der Verhaltenspsychologie
Der Verhaltenspsychologie ist beispielsweise bekannt, dass der Mensch bei unreflektierten Handlungen typischerweise vorgezeichneten Wegen und Zielen folgt. Diese Schwäche macht sich der Supermarktbetreiber im Falle des Schokoriegels für Süßigkeiten bei der Produktplatzierung zunutze, damit – trotz ursprünglich gegenteiliger Absichten – ein solcher gekauft wird. Ähnlich wirkt die sogenannte Status-quo-Verzerrung. Hiernach neigt der Mensch dazu, voreingestellten Modalitäten den Vorzug zu geben. Ist ein Drucker beispielsweise schon im Papiersparmodus eingestellt, wird diese Voreinstellung in der Regel beibehalten.
Was hier im Kleinen durch Private geschieht, soll nun für den Bereich der Organspende durch den Staat zur Anwendung gelangen. In seiner letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause hat der Bundestag unter anderem einen Änderungsvorschlag für das Transplantationsgesetz beraten, der gegenwärtig als sogenannte „doppelte Widerspruchslösung“ kontrovers diskutiert wird. Um als Organspender in Betracht zu kommen, soll fortan keine positive Zustimmung des potenziellen Organspenders mehr erforderlich sein, sondern dessen unterlassener Widerspruch genügen. Ist den nahen Angehörigen ebenso kein entgegenstehender Wille bekannt, wäre eine Organentnahme erlaubt. Entsprechend der verhaltenspsychologischen Erkenntnisse kann erwartet werden, dass die voreingestellte Organspendereigenschaft beibehalten wird. Der Bürger wird auf diese Weise praktisch zum Organspender. Das erfolgt nicht durch staatliches Gebot, sondern nur durch staatlichen Anstoß, letztlich aber durch die – verhaltenspsychologisch bekannte – Trägheit des Bürgers.
Der Mensch des Grundgesetzes: eigenverantwortlich und frei
Aus rechtlicher Perspektive ruft das insbesondere die Grundrechte des Grundgesetzes auf den Plan. Den grundrechtlichen Rechtfertigungserfordernissen muss sich der Staat aber nur dann stellen, wenn er in ein Grundrecht eingreift. Im Falle des Nudgings könnte es hieran aber genau fehlen. Immerhin wurde der Bürger nicht gezwungen, sondern hat selbst – wenn auch passiv – entschieden. Soll die Verfassung aber ihre normative Kraft entfalten, müssen sich die Grundrechte auch neuartigen Regulierungsmethoden stellen: Macht sich der Gesetzgeber die verhaltenspsychologischen Erkenntnisse zunutze, dürfen sich die Grundrechte vor ihnen nicht verschließen – die Grundrechte sind schließlich nicht dümmer als der Gesetzgeber. Ist daher absehbar, dass der Bürger aufgrund seiner Trägheit nicht die staatlicherseits für ihn eingestellten Ausgangsbedingungen ändert, liegt eine grundrechtliche Belastung vor; ein Grundrechtseingriff ist gegeben. Betroffen ist hier jedenfalls die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Berücksichtigt man auch, dass im Falle der Organspendereigenschaft noch vor dem Tod organerhaltende Maßnahmen einsetzen, wird sogar in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eingegriffen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Leitet man schließlich aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ein Recht darauf ab, sich nicht mit der eigenen Sterblichkeit befassen zu müssen, wäre ein Eingriff ohne Weiteres zu bejahen, da der Staat es gerade intendiert, den Einzelnen mit seiner Endlichkeit zu konfrontieren.
Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist natürlich das entgegenstehende gewichtige Rechtsgut der Gesundheit und des Lebens derjenigen Patienten einzukalkulieren, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind. Zu ihrem Schutz ist der Staat wiederum grundrechtlich verpflichtet. Das rechtfertigt den Grundrechtseingriff allerdings nicht ohne Weiteres, denn als besonders eingriffsintensiv erweist sich gerade das, was für die meisten Nudges charakteristisch sein dürfte: Der Bürger wird gerade nicht zu einer eigenverantwortlichen positiven Entscheidung angehalten. Eine solche wird vielmehr umgangen. Das Menschenbild des Grundgesetzes erwartet aber genau das Gegenteil. Insbesondere die Menschenwürde geht vom Menschen als ein vernunftbegabtes und selbstbestimmtes Subjekt aus. Dass sich der Mensch in Alltagssituationen tatsächlich oft ganz anders verhält, vermag an der normativ unterstellten Fähigkeit zur Selbstbestimmung so schnell nichts zu ändern. Wirklichkeit und Norm, Sein und Sollen müssen unterschieden werden. Gerade dort, wo beide voneinander abweichen, kann das grundgesetzliche Menschenbild seine normative Wirkung entfalten.
Mehr Optimismus hinsichtlich der Eigenverantwortlichkeit des Menschen!
Verfassungswidrig ist ein Nudge aufgrund eines verfassungstheoretischen Bildes vom Menschen deshalb noch nicht. Man muss ihretwegen auch nicht gleich den Gang ins Autoritäre beklagen. Vor allem in wenig grundrechtssensiblen Alltagssituationen können aus rechtspolitischer Sicht gute Gründe dafür sprechen, auf subtilere Steuerungsformen zu setzen. Gerade wo sonst gesetzliche Ge- oder Verbote zulässig wären, könnten sich Nudges als kluges – und grundrechtsschonenderes – alternatives Regulierungsinstrument erweisen.
Ist ein staatliches Ge- oder Verbot aber ohnehin unzulässig, kann das eben Gesagte freilich nicht zur Rechtfertigung des Nudges beitragen. Das dürfte auch für die Organspende gelten, da sich ein ausdrückliches staatliches Gebot zur Organspende nur schwer rechtfertigen ließe. Dann aber darf auch der sanfte Stups nicht zu einer Quasi-Organspendepflicht führen, was jedenfalls niedrigschwellige Widerspruchsmöglichkeiten verlangt. Aus diesem Grund tragen erst die im Gesetzesentwurf von Jens Spahn vorgesehene grundlose Widerspruchsmöglichkeit und die regelmäßigen Informationspflichten zur Verfassungskonformität der Widerspruchslösung bei. Daneben bleibt der Gesetzgeber dazu verpflichtet, etwaige grundrechtssensiblere Alternativen intensiv in Erwägung zu ziehen: Kämen Aufklärungskampagnen, die bei weiterhin gültigem Zustimmungserfordernis zu einer erhöhten Spendebereitschaft beitragen, als gleich geeignetes, aber weniger grundrechtseinschneidende Option in Betracht? So sieht es ein konkurrierender Gesetzesentwurf bereits jetzt vor. Nach Einführung einer Widerspruchslösung wird dafür in Zukunft insbesondere der Blick in andere Rechtsordnungen erforderlich sein.
Auch wenn sich die Widerspruchslösung verfassungskonform ausgestalten lässt, sollte gleichwohl nicht aus dem Blick verloren werden, dass stets die Alternative verbleibt, den Bürger soweit wie möglich in den Stand zu versetzen, eigenverantwortliche, informierte und reflektierte Entscheidungen zu treffen. Das dürfte nicht nur im Interesse des grundgesetzlichen Menschenbildes, sondern ebenso des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates sein. Dieser ist in besonderer Weise von einem eigenverantwortlich entscheidenden Bürger abhängig. Die Verhaltenspsychologie ist bezüglich dieser Fähigkeiten zwar pessimistisch. Das Grundgesetz jedoch stellt dem ein weitaus optimistischeres Bild vom Menschen gegenüber. Hieran sollte sich die Politik orientieren.
Zitiervorschlag: Honer/Rudloff, Wohin stupst uns der Staat? Eine Betrachtung der Widerspruchslösung für die Organspende im Lichte der Grundrechte, JuWissBlog Nr. 89/2019 v. 17.9.2019, https://www.juwiss.de/89-2019/
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