von OLAF KOWALSKI
Nach dem Einzug der Alternative für Deutschland in den 19. Deutschen Bundestag ist der Auseinandersetzung mit dem (Rechts-) Populismus auch hierzulande eine neue Bühne bereitet. Gefordert ist aber weiter und vor Allem auch eine alltägliche Debatte in der Zivilgesellschaft. Ein scharfer, aber offener gesellschaftlicher Diskurs zur Versicherung über gemeinsame Werte muss im Sinne der Meinungsfreiheit aufrechterhalten werden. Beim Schritt aus der „Echokammer“ hilft ein erneuter Blick auf eine gar nicht staubige BVerfGE.
Das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 7, 198) dürfte neben demjenigen zu Elfes (E 6, 32) zu den wenigen Entscheidungen des Gerichts gehören, die schon studierende (Verfassungs-) Juristinnen und Juristen an ihrer amtlichen Fundstelle erkennen. Mit Oliver Lepsius hat nach der „Versubjektivierung des objektiven Rechts“ durch Elfes die „Verobjektivierung des subjektiven Rechts“ durch Lüth prägende Bedeutung für die gesamte Rechtsordnung – und nicht zuletzt für die institutionelle Stellung des BVerfG selbst – erlangt.
Die seinerzeit in der Auseinandersetzung über den Boykottaufruf des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth gegenüber dem NS-„Prestigeregisseur“ (Rn. 59) Veit Harlan etablierten verfassungsdogmatischen Begriffe der objektiven Wertordnung (Rn. 25), der Ausstrahlungs- (Rn. 29) und Wechselwirkung (Rn. 32) der Grundrechte sind schon frühen Semestern geläufig und gehören, ebenso wie die Aufwertung der Freiheit der Meinungsäußerung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG im Kern des Urteils (Rn. 30 ff.), zum absoluten Pflichtstoff im Staatsrecht II. Es handelt sich somit um einen veritablen Klassiker des deutschen Verfassungsrechts, der nicht zuletzt als früher Akt der Bewältigung der NS-Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik auch über den nationalen Verfassungsraum hinaus symbolisch ausstrahlte.
Strahlt Lüth auch heute noch? Das Wesen eines Klassikers liegt darin, dass er nicht oder jedenfalls sehr gut altert und jederzeit, in neuen Kontexten gelesen, neue Einsichten hervorbringen und neue Schlüsse erlauben kann (worin auch jene besseren Gründe liegen, die Christoph Möllers zu Recht für eine bloß jubiläumsveranlasste Lektüre fordert). Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, für welches die Meinungsfreiheit „schlechthin konstituierend“ (Rn. 31) ist, existiert nach wie vor und auch der darüber hinausreichende demokratietheoretische Anspruch gilt fort. Es lässt sich daher fragen, inwiefern eine erneute Lektüre des Klassikers Lüth jenseits der viel zitierten, eingängigen Stellen auch eine Hilfestellung bei der Interpretation einer veränderten gesellschaftlichen und politischen Lage sein kann. Können wir 60 Jahre nach Verkündung des Urteils am 15. Januar 1958 aus seinem Text auch für die gegenwärtigen Diskussionen um „Weimarer Verhältnisse“, um gesellschaftliche, nun auch parlamentarische Fragmentierung, öffentliche Meinungsbildung und den rauen Ton des Populismus, kurz um „soziale Ordnungsprinzipien“ (Rn. 46) Schlüsse ziehen?
Meinungsfreiheit und Demokratie
Eine solche Lektüre des Lüth-Urteils legt auch das viel beachtete Werk von Leo/Steinbeis/Zorn, Mit Rechten reden nahe (S. 151 und ff.). „Erst die ständige geistige Auseinandersetzung, de[r] Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist“ und der „Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen Auffassungen“ (Rn. 31, 54) konstituieren die pluralistische Demokratie. Sofern diese auch in einem halbkreisförmigen Parlament stattfindet, das den Anspruch auf Repräsentation der Gesellschaft erhebt, wird sie stets ein „Links“ und ein „Rechts“ haben und haben müssen. Demnach ist es allein konsequent, wenn „die unerlässliche Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen“ gleichermaßen für den jeweiligen „dazu legitimierten“ (Rn. 39) politischen Gegner gilt. Und das selbst dann, wenn dieser seinerseits Auffassungen von Gemeinschaft vertritt, die der Grundlage dieser Freiheit von vornherein den Boden entziehen würden, auf dem „jeder Einzelne Träger derselben Grundrechte ist“, die hier in Rede stehen (Rn. 55 zu Art. 2 GG). Denn „der Wert des Grundrechts [des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG] zeigt sich gerade auch darin, dass jeder von ihm Gebrauch machen kann“ (Rn. 54, Hervorhebung dort). Mit Rechten reden heißt also grundsätzlich: mit Grundrechten reden.
Gleichermaßen ist aber der Hinweis – im Urteil in Bezug auf § 826 BGB – angebracht, dass nicht nur der Schutz der persönlichen Ehre zivil- und strafrechtlich der Meinungsäußerung Schranken auferlegt, sondern auch „andere wesentliche Güter der menschlichen Persönlichkeit“ bis hin zur Menschenwürde selbst (Rn. 38, vgl. auch Rn. 56). Nach Art. 18 S. 1 GG kann die Meinungsfreiheit bei Missbrauch zum Kampfe gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verwirkt werden. Mit Blick auf die nationalsozialistische Grundierung des bekannten Sachverhaltes von Lüth (insb. Rn. 49) und auf manche als „Verschiebung des Sagbaren“ gefasste Äußerungen von Neu-Rechts erhellt ein Blick in die Ausführungen des Urteils, dass es sich bei den „guten Sitten“ zwar um „geschichtlich wandelbar[e]“ Anschauungen handelt (Rn. 46). Gerade deshalb sind diese aber auch durch das (Verfassungs-) Recht (ebd.) und durch eine korrespondierende, gelebte Verfassungspraxis beeinflussbar, wie jüngst auf einer Tagung am wegweisenden Beispiel der ebenfalls 1958 gehaltenen Antrittsvorlesung Konrad Hesses zur „Normativen Kraft der Verfassung“ verdeutlicht wurde.
Mit Rechten reden?
Auf diesen alltäglichen „Willen zur Verfassung […] kommt es nicht nur im Großen, sondern gerade auch im Kleinen an“ (Hesse). Die Aufmerksamkeit auf den Begriff und das Phänomen des (Rechts-) Populismus als spezifische Sprechweise bzw. „Sprachspiel“ zeigt die anspruchsvolle Interdependenz von freier Meinungsäußerung und gemeinsamer (auch diskursethischer) Grundannahmen im demokratischen Verfassungsstaat. Soweit populistische Forderungen und Argumentationen, mit der einflussreichen Grundlegung von Jan-Werner Müller, „tendenziell antidemokratisch“ (S. 91 und passim) oder genauer: antipluralistisch sind, lassen sie sich ohne Preisgabe der eigenen (diskursiven) Werte eben paradoxerweise nur im offenen Diskurs als solche entlarven und bestenfalls wieder einfangen.
Dass die „Kulissen eines verschärften politischen Meinungskampfes“ nun auch im Bundestag als dem Ort des Politischen, dem „Hüter und Herold echter Toleranz“ (so das MdB Schmid-Tübingen 1952, zit. nach Rn. 73) errichtet werden müssen, ist so gesehen kein per se „beklagenswerter Vorgang“ wie noch die von Lüth befürchtete Rehabilitierung Harlans (Rn. 51). Im Gegenteil: Es ist nicht das schlechteste Zeichen einer der Repolitisierung der Gesellschaft gewappneten repräsentativen Demokratie, das nicht nur „Beifall links und bei den Regierungsparteien“ (Rn. 74) verdient; auch, wenn heute nicht alle Mandatsträger im Deutschen Bundestag die „Auffassungen der verständigen, billig und gerecht denkenden Bürger“ abbilden (sichere Gewissheit darüber noch bei Rn. 74).
Und dass es sich bei dem der Judikatur zur Meinungsfreiheit seit Lüth zugrundeliegenden diskursiven und pluralistischen Demokratieverständnis nicht um ein „Schön-Wetter-Postulat“ handelt, kann nun von jedem in der „kleinen“ alltäglichen Auseinandersetzung mit rechten (und linken) Thesen bewiesen werden. Erst recht, wenn keine „besonders nahe persönliche Beziehung“ zum Sachverhalt dazu Veranlassung gibt (Rn. 53 führt eine solche „Legitimation“ (Rn. 39) aber jedenfalls zugunsten Lüths ins Feld). Denn gerade dabei handelt es sich um nichts anderes als Klasse, um, mit Hesse: praktischen Willen zur Verfassung oder schlicht mit den Worten Lüths (nun des Senatsdirektors selbst): „Charakter“ (zit. nach Rn. 2).
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