Neue Regelungen zur Sicherung der europäischen Außengrenzen
von MATTHIAS LEHNERT
Die EU und ihre Mitgliedstaaten nehmen den Tod zahlreicher Menschen an den Außengrenzen in Kauf, statt effektive Lösungen gegen das Massensterben zu beschließen. Nun hat das Europäische Parlament eine Verordnung zur Sicherung der Seeaußengrenzen verabschiedet – und damit die Menschen- und Flüchtlingsrechte weiter geschwächt: Die Verordnung sieht vor, dass Menschen von Hoher See aus in Staaten außerhalb der EU zurückgeschoben werden können, obwohl es auf See faktisch nicht möglich ist, ein Verfahren zur Flüchtlingsanerkennung einzuleiten. Zudem soll bei Seenotrettungen auf Hoher See eine Ausschiffung prinzipiell in Dritt- statt in europäische Staaten stattfinden – entgegen der gängigen Prinzipien des Völkerrechts.
Mehr als 23.000 Menschen sind seit dem Jahr 2000 auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen – verdurstet, verhungert oder erstickt in Laderäumen von Lkws, die meisten aber ertrunken im Mittelmeer und im Atlantik bei der Überfahrt nach Spanien, Italien oder Griechenland. Diese neuesten Zahlen hat das Datenbankprojekt „The Migrant’s Files“ auf der Grundlage von Presseberichten sowie Daten der UN und der Europäischen Kommission ermittelt. Tatsächlich dürften die Todeszahlen noch viel höher liegen.
Es sind dies Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea oder Mali; Menschen, die geflüchtet sind oder ihre Heimat mehr oder weniger freiwillig verlassen haben. Als Tote verschwinden sie in den Tiefen der Meere und als schnell vergessene Randnotizen in den europäischen Medien – und werden wahlweise als Opfer skrupelloser Schlepper_innen oder der Meeresgewalten, oder als Ausdruck eines bedrohlichen Ansturms auf die europäischen Außengrenzen dargestellt.
Die Opfer des europäisches Migrationsregimes
In Wahrheit sind es Opfer des europäischen Migrationsregimes: Das Einwanderungsrecht verbietet es, dass Flüchtlinge legal einreisen, sie werden zu illegalen Migrant_innen gemacht. Und die flächendeckende Überwachung der Seegrenzen durch die nationalen Grenzbehörden, koordiniert von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, führt dazu, dass sie immer gefährlichere Wege auf sich nehmen und in möglichst kleine und noch seeuntauglichere Boote steigen, um nicht auf den Radaren des Grenzschutzes aufzutauchen. Die Angst vor den Grenzschützer_innen hat ihre Gründe, immer wieder wird von skrupelloser Gewalt gegenüber Flüchtlingsbooten auf See und von push-back-Operationen berichtet – Rückschiebungen in Drittstaaten ohne die Möglichkeit, einen Antrag auf Asyl oder internationalen Schutz zu stellen, eine Praxis, die der EGMR 2012 für menschenrechtswidrig erklärt hatte. In dem Urteil ging es um die Rückschiebung von 200 Migrant_innen auf Hoher See durch die italienische Küstenwache nach Libyen, ohne dass die Menschen eine Möglichkeit hatten, Schutz zu beantragen. Der Gerichtshof sah darin eine Verletzung des non-refoulement-Gebotes aus Art. 3 sowie eine Verletzung des Verbotes der Kollektivausweisung aus Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls EMRK und des Rechts auf effektive Beschwerde nach Art. 13 EMRK.
Derweil war auch aus Brüssel und den europäischen Hauptstädten im vergangenen Oktober ein Moment der Selbstkritik zu vernehmen, als vor der italienischen Insel Lampedusa auf einen Schlag mehr als 350 Menschen zu Tode kamen. Exemplarisch forderte damals die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström mehr Offenheit und Solidarität und sah die Zeit gekommen für eine „wirklich europäische Antwort“.
Was ist geschehen seitdem? Was ist die Antwort Europas auf die Tausenden von Toten an seinen Grenzen? Und wird Europa seinen Verpflichtungen aus dem internationalen Flüchtlingsrecht gerecht?
Überwachen und sterben lassen
Einige Antworten wurden bereits in Recht gegossen, zwei aktuelle EU-Verordnungen formulieren neue Rahmenbedingungen für den europäischen Grenzschutz: Mit der Eurosur-VO, welche das Europäische Parlament und der Rat kurz nach den Todesfällen vor Lampedusa angenommen hatten, wurde ein gleichnamiges Grenzüberwachungssystem eingerichtet. In dieser Woche nun hat das Parlament mit der Seeaußengrenzen-VO neue Regeln für Überwachungsmaßnahmen beschlossen, die an den europäischen Seeaußengrenzen unter der Koordinierung Frontex stattfinden.
Das 340 Millionen Euro teure Grenzüberwachungssystem Eurosur, welches freilich bereits seit langer Zeit geplant war, ist seit letztem Dezember in Betrieb und zielt darauf ab, illegale Grenzübertritte an den Außengrenzen durch eine effektivere Überwachungstechnologie und eine stärkere Vernetzung der nationalen Grenzschutzbehörden und Frontex schneller verhindern zu können. Die Rettung von Menschen in Seenot wird in der Verordnung nur am Rande erwähnt, vor allem fehlt es an konkreten Vorgaben über weiterhin umstrittene Fragen, nämlich welche Staaten und Institutionen in einer Notlage zuständig sind und welche Maßnahmen sie ergreifen sollen.
Rückschiebungen statt Flüchtlingsverfahren
Die Seeaußengrenzen-VO, die das Parlament nun beschlossen hat, ersetzt die sogenannten Frontex-Leitlinien, die 2010 als unionsrechtliches Tertirärrecht beschlossen und zwei Jahre später vom EuGH für rechtswidrig erklärt wurden, weil das Parlament nicht hinreichend an der Gesetzgebung beteiligt worden war. Die neue Verordnung möchte eine Reaktion sein auf die menschenrechtliche fundierte Kritik an der europäischen Grenzschutzpolitik.
Dementsprechend bekennt sie sich zu den einschlägigen Menschen- und Flüchtlingsrechten und sieht in Art. 4 vor, dass die beteiligten Einsatzkräfte vor einer Ausschiffung eines Schiffes in einen Drittstaat die dortige Menschenrechtslage berücksichtigen müssen. Auch soll den betroffenen Personen Gelegenheit gegeben werden, „etwaige Gründe für die Annahme, dass die Ausschiffung an dem vorgeschlagenen Ort gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt, vorzubringen“. Konkreter wird es jedoch kaum, und so bleibt unklar, auf welche Weise die Flüchtlingsrechte der Betroffenen gewahrt werden sollen: Die Genfer Flüchtlingskonvention sieht in Art. 33 vor, dass kein Flüchtling an einen Ort zurückgewiesen werden darf, an dem eine lebens- oder freiheitsgefährende Verfolgung droht; die Bestimmung verlangt implizit eine effektives Verfahren, um eine Verfolgung festzustellen sowie die Möglichkeit von gerichtlichem Rechtsschutz. Einen vergleichbaren Schutzgehalt enthalten die Zurückweisungsgebote aus der EMRK, soweit eine Verletzung von Konventionsrechten droht, sowie die Art. 18 und 19 GRCh und die Rechtsschutzgarantie des Art. 47 GRCh.
In der Seeaußengrenzen-VO ist zwar vorgesehen, dass die Beamt_innen menschenrechtlich geschult werden, ohne jedoch Umfang und Umsetzung dessen festzulegen. Dolmetscher_innen und eine rechtliche Beratung sollen in einzelnen Fällen hingezogen werden können – ohne dass dies jedoch für jeden Fall, wie es das Flüchtlingsrecht vorsieht, verpflichtend ist; ohnehin bleibt unklar, wie bei einer Gruppe von gegebenenfalls mehr als hundert Menschen aus unterschiedlichen Ländern eine angemessene Übersetzung und Beratung praktisch sichergestellt werden kann. Ebenfalls wird nicht geregelt, wie ein effektiver Rechtsschutz gegen Rückschiebungen aussehen soll.
Durch die Möglichkeit, Rückschiebungen in Drittstaaten von Hoher See aus vorzunehmen, wird die Praxis rechtswidriger push-backs verrechtlicht: Der Verordnung fehlt es an konkreten Vorgaben. Ohnehin ist es faktisch nicht vorstellbar, wie auf See ein effektives und individuelles Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft durchgeführt werden kann.
Schließlich enthält die Verordnung zwar verbindliche Bestimmungen, wie in einer Seenotlage zu verfahren ist – allerdings sind auch hier die Details problematisch. So ist in Art. 10 der Verordnung vorgesehen, dass bei einer Abfangmaßnahme auf Hoher See das betroffene Schiff vorrangig in einen Drittstaat ausgeschifft wird – obwohl das Völkerrecht ein solches Vorrangverhältnis nicht kennt.
Die europäische Antwort: Abwehr statt Schutz
Die Eurosur-VO und die Seeaußengrenzen-VO mögen europäische Antworten auf die Tausenden von Toten sein – humanitäre und flüchtlingsrechtlich gebotene Antworten sind es nicht. Statt die Küstenwachen langfristig und effektiv zu stärken und staatliche Verantwortlichkeiten für Menschen in Seenot zu klären, verfolgen die EU und ihre Mitgliedstaaten eine andere Strategie: Die Abwehr illegaler Migration durch Abschreckung und eine Effektivierung der Grenzüberwachung sowie durch menschenrechtswidrige Rückschiebungen in Drittstaaten.
Erst recht wird an den Grundproblemen nicht gerüttelt. Dabei gäbe es durchaus Lösungen, um die Menschen von ihren lebensgefährlichen Überfahrten abzuhalten: Durch die Schaffung von legalen Einreisemöglichkeiten etwa oder ausreichende Resettlement- oder Aufnahmeprogramme – wie die freilich längst nicht ausreichende Aufnahme von 10.000 syrischen Flüchtlingen durch Deutschland – oder durch die Errichtung eines humanitären Korridors auf dem Seeweg. Schon diese drei naheliegenden Lösungen zeigen zugleich: Es muss noch nicht einmal die Welt neu erfunden werden, um weitere Katastrophen zu verhindern.