von NICHOLAS OTTO
Während der Vertrag von Lissabon die Rechtsaktformen des Unionsrechts erfreulicherweise von 15 auf fünf reduziert hat, ist das Feld der Rechtsetzungsverfahren weiterhin höchst vielfältig: Je nach Zählweise lassen sich allein im AEUV mehr als 70 verschiedene Verfahren zur Erzeugung verbindlichen Rechts identifizieren; allein das ordentliche Gesetzgebungsverfahren – üblicherweise stets im Singular bezeichnet – tritt bei genauerem Hinsehen in 16 verschiedenen Spielarten auf, da bisweilen Akteure wie der Wirtschafts- und Sozialausschuss oder auch die Europäische Zentralbank angehört werden müssen. Nicht nur bei den ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, sondern im Rahmen aller Rechtsetzungsverfahren divergieren zudem die Initiativrechte – hier finden sich neben dem Regel-Initiativrecht der Kommission mitunter Ausnahmeerscheinungen wie ein Vorschlagsrecht des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs oder der Europäischen Investitionsbank.
Bemerkenswert ist, dass bisher kaum versucht worden ist, Regelmäßigkeiten in dieser fein ausdifferenzierten Verfahrensvielfalt herauszuarbeiten. Ein solches Vorgehen wäre aber nötig, um eine Basis für eine fundierte Reformdiskussion in diesem Bereich zu gewinnen. Der Vortrag will Ansätze einer solchen Basis liefern und zu diesem Zweck die Initiativrechte in der unionalen Rechtsetzung untersuchen. Dabei zeigt sich zweierlei:
Zum einen fällt auf, dass Vorschlagsrechte anderer Akteure als der Kommission nicht nur rechtlich und zahlenmäßig die Ausnahme sind, sondern auch inhaltlich Sondersituationen betreffen: Es geht entweder um Primärrechtsänderungen oder zumindest um primärrechtsnahe Bereiche, das heißt um die Organisation und Arbeitsweise bestimmter Akteure – seien es Unionsorgane, weitere Stellen der Union oder auch die Mitgliedstaaten. In keinem Fall sind sie aber für Maßnahmen der Union in einem vollständig supranationalisierten Politikfeld vorgesehen; auf diesem Feld ist ausnahmslos die Kommission initiativberechtigt.
Zum anderen sind die Initiativrechte durch eine ergebnisorientierte Verteilung gekennzeichnet; stets dienen sie dazu, bestimmte Inhalte der zu beschließenden Rechtsakte sicherzustellen. Die Kommission ist auf die „allgemeinen Interessen der Union“, also auf das Gemeinwohl auf europäischer Ebene, verpflichtet. Wie zu zeigen sein wird, ist diese Gemeinwohlverpflichtung der zentrale Baustein, der die vielfältigen mit dem Initiativrecht der Kommission assoziierten Aspekte zu einem einheitlichen Bild zusammenfügt. Die Zuweisung des Initiativrechts an die Kommission lässt sich daher mindestens als Recht, wenn nicht sogar als Gebot deuten, mithilfe der von ihr ausgearbeiteten Rechtsaktvorschläge die Wirklichkeit in der Union gemeinwohldienlich zu formen. Dazu ist sie in der Lage, weil der Einfluss des Vorschlags auf den letztlich angenommenen Rechtsakt als maßgeblich gelten darf. Im Umkehrschluss können die Initiativrechte anderer Akteure als Möglichkeit und Auftrag verstanden werden, vorrangig bestimmte Partikularinteressen – und zwar die eigenen Interessen des jeweiligen Akteurs – in einen Rechtsakt entscheidend einfließen zu lassen. Vom Regelfall abweichende Initiativrechte sind vor diesem Hintergrund autonomiegewährende und -sichernde Rechtspositionen.
Diese Erkenntnisse aus dem Bereich der Initiativrechte sagen freilich noch nichts über die weiteren Phasen der unionalen Rechtsetzungsverfahren aus, es ergibt sich aber eine erste Tendenz: Die beschriebene Vielfalt an Verfahrensarten ist – anders als man vermuten mag – kein planloses Sammelsurium, sondern weist eine erstaunliche Binnenlogik auf, die es vor leichtfertigen Änderungen zu bewahren gilt.
Zitiervorschlag: Nicholas Otto, Die Vielfalt unionaler Rechtsetzungsverfahren – Ansätze einer Systematisierung am Beispiel der Initiativrechte, JuWissBlog Nr. 71/2019 v. 20.6.2019, https://www.juwiss.de/71-2019/
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