von MARTIN HOCK
Das EuGH-Urteil zur Kennzeichnungspflicht von Produkten israelischer Siedlungen hat Kritik ausgelöst (z.B. hier und hier). Das Urteil sei ein politischer Akt und Ausdruck eines Doppelstandards, da es keine vergleichbare Kennzeichnungspflicht für andere völkerrechtlich umstrittenen Gebiete – Nordzypern oder die West-Sahara – gebe. Zudem habe der Gerichthof ultra vires gehandelt. Während dieser Kritik bereits widersprochen und die Entscheidung des EuGH verteidigt wurde, ist das Argument der fehlenden vergleichbaren Rechtsprechung bisher nur für die West-Sahara, nicht jedoch Nordzypern ausführlich genug betrachtet worden. Gerade im Vergleich zeigt sich jedoch, dass der EuGH durchaus konsistent urteilt.
Argumentative Grundlinien
Der EuGH entscheidet über Fragen, die an ihn herangetragen werden. Daher ist es zunächst kein Zeichen von Diskriminierung, wenn über die Frage der Lebensmittelkennzeichnung mit Bezug auf Israel und die palästinensischen Gebiete, aber nicht in Bezug auf die West-Sahara geurteilt wurde. Mit Blick auf die Rechtsprechung zur West-Sahara und Nordzypern ist dieser Vorwurf wenig stichhaltig. In der Urteilspraxis des EuGH zeigt sich bei mindestens vier Urteilen eine strukturell gleichartige Rechtsprechung in der Frage des Umgangs mit völkerrechtlich umstrittenen Territorien. Diese kann unter der argumentativen Grundlinie, dass keine automatische Geltung europarechtlicher Regelungen auf völkerrechtlich umstrittenen Gebieten besteht und der klaren Trennung von völkerrechtlich umstrittenen und völkerrechtlich eindeutig definierten Gebieten, zusammengefasst werden. Dabei ist die völkerrechtliche Bewertung entscheidend, nicht die innerstaatliche Rechtsauffassung. Das Urteil zur Kennzeichnungspflicht folgt argumentativ der Rechtsprechung zur West-Sahara und Nordzypern. Letztere wurde zeitgenössisch bereits als Doppelstandard im Vergleich zur angeblich bevorzugten Behandlung Israels kritisiert. Das Urteil ist somit Teil einer konsistenten Rechtsprechung.
Das Urteil zur Kennzeichnungspflicht
Mit dem Urteil zur Kennzeichnungspflicht wurden die Verordnung Nr. 1169/2011 und die Mitteilung zu Auslegungsfragen über die Ursprungsbezeichnung von Waren aus den von Israel seit Juni 1967 besetzten Gebieten – die Golanhöhen, Ostjerusalem und das Westjordanland – geprüft. Aufgrund der Gefahr der Irreführung der Verbraucher über den Rechtsstatus der palästinensischen Gebiete und des Rechts, Kaufentscheidungen auch anhand moralischer Gesichtspunkte zu treffen, muss die Produktherkunft aus einer israelischen Siedlung gesondert angegeben werden. Zudem hat der Gerichtshof in Rn. 34 eine Aussage über den völkerrechtlichen Status der palästinensischen Gebiete getroffen. Diese unterliegen „nach den Regeln des humanitären Völkerrechts einer beschränkten Hoheitsgewalt Israels, welches als Besatzungsmacht auftritt und sind nicht mit dem Staat Israel identisch“ – für den EuGH ist somit der Rechtsstatus der Gebiete nach israelischem Recht unwesentlich.
Die Rechtsprechung zur West-Sahara und Nordzypern
Dabei stellt die Auslegung von Art. 60 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union – wonach Waren ihren Ursprung in einem Land oder einem Gebiet haben – das Bindeglied zwischen dem vorliegenden Urteil und den West-Sahara-Urteilen dar. In Rn. 29 definiert der EuGH „Staat“ als „souveräne Einheit, die innerhalb ihrer geographischen Grenzen sämtliche ihr nach dem Völkerrecht zustehenden Befugnisse ausübt“ und verweist in Rn. 95 explizit auf das Urteil C-104/16 P Rat/Front Polisario EU:C:2016:973 vom 21. Dezember 2016. Auch die Definition von „Gebiet“ als „geographische Gebiete, auf die sich zwar die Hoheitsgewalt oder internationale Verantwortung eines Staates erstreckt, die aber einen eigenen völkerrechtlichen Status haben, der sich von dem dieses Staates unterscheidet“ in Rn. 31 beruht explizit auf den West-Sahara-Urteilen (siehe oben und Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C-266/16, EU:C:2018:118, Rn. 62-64).
Mit dem Urteil Rat/Front Polisario hat der EuGH das Assoziierungsabkommen sowie das Liberalisierungsabkommen in Bezug auf Landwirtschaft und Fischerei mit Marokko für nicht auf dem Gebiet der West-Sahara anwendbar erklärt, da andernfalls das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris eingeschränkt würde. Der Gerichtshof widersprach der Rechtsauffassung Marokkos, wonach die West-Sahara marokkanisches Staatsgebiet darstellt – somit konnten ab dem Stichtag 21.12.2016 keine Zollpräferenzen für Waren aus der West-Sahara in Anspruch genommen werden. Mit dem Urteil C-266/16 wurde mit der gleichen Argumentationslinie die Nicht-Anwendbarkeit des Fischereiabkommens mit Marokko auf das Gebiet der Westsahara erklärt. Im Urteil von 2016 (Rn. 95 und 132) wurde auf das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris und den Status West-Sahara als non-self-governing-territory nach Art. 73 UN-Charta verwiesen (Rn. 93), daher findet das Abkommen keine Anwendung auf die West-Sahara (Rn. 132). Das Urteil von 2018 übernahm diese Beurteilung (Rn. 62). In Verbindung mit der West-Sahara liegt bisher keine Klage mit Bezug auf den Verbraucherschutz vor.
Eine weitere Rechtsprechung mit vergleichbarer Argumentationslinie findet sich mit Bezug auf Nordzypern. So urteilte der EuGH – nachdem bereits zwei vorherige Verfahren (C-432/92, ECLI:EU:C:1994:277 und C-219/98, ECLI:EU:C:2000:360) keine Klarheit gebracht hatten – im Fall Anastasiou III (C-140/02, ECLI:EU:C:2003:520) mit Bezug auf die Einfuhr nordzypriotischer Zitrusfrüchte und der Ausstellung von Pflanzengesundheitszeugnissen in einem Drittland (diese waren in der Türkei ausgestellt worden), dass diese Zeugnisse nur im Ursprungsland der Zitrusfrucht ausgestellt werden können. Daraufhin kam es zu einem Importstopp der betroffenen Zitrusfrüchte (vgl. Talmon, Stefan 2006: Kollektive Nichtanerkennung illegaler Staaten, Mohr Siebeck, Tübingen: 689-690). Die Rechtsprechung zu Nordzypern wurde als de-facto-Sanktionen betrachtet – und mit Verweis auf die zu diesem Zeitpunkt fehlende analoge Rechtsprechung und Kennzeichnungspflicht von Produkten aus den von Israel besetzten Gebiete kritisch bewertet (vgl. Koutrakos, Panos 2003: Legal Issues of EC-Cyprus Trade Relations, ICQL 52, 489-498: 497).
Rechtliche Konsistenz, kontroverse politische Lage
Trotz dieser konsistenten argumentativen Grundlinie bleiben Fragen offen. So erscheint es zumindest überraschend, dass in den Urteilen zur West-Sahara Fragen des humanitären Völkerrechts – welche eine zentrale Rolle im Urteil zur Kennzeichnungspflicht spielten –weitgehend ausgeklammert wurden. In den Urteilen zu Nordzypern wurde die Frage nach dem völkerrechtlichen Status dieses Territoriums nicht weiterverfolgt. Dies könnte dem besonderen Status Palästinas im System der VN geschuldet sein, aber auch der klaren völkerrechtlichen Zuordnung der West-Sahara und Nordzyperns.
Das Treffen einer Konsumentscheidung anhand ethischer Kriterien ist ein hochgradig politischer Akt – der aber vom Konsumenten nur dann vollzogen werden kann, wenn möglichst genaue Angaben vorliegen. Anstatt selbst ein Teil politischer Kampagnen und Handlungen zu sein, ermöglicht der EuGH diese erst (siehe auch hier). Dennoch kann die politische Dimension gerade bei einem so komplexen Konflikt nicht vernachlässigt werden. Der Umgang mit der Kennzeichnung israelischer und damit implizit jüdischer Produkte muss vor dem Hintergrund der Shoa vorsichtig erfolgen. Hinzu kommt die politische Brisanz der BDS-Bewegung, welche den Boykott israelischer Waren als politisches Ziel ausgegeben hat. Diese Bewegung wird vom deutschen Bundestag als antisemitisch eingestuft. Daher ist das Urteil mit Unbehagen zu betrachten. Dass aber für die West-Sahara und Nordzypern keine vergleichbare Kennzeichnungspflicht – schließlich geht es im Fall von Nordzypern um Pflanzenschutzzeugnisse – vorliegt, ist kein eindeutiges Zeichen für Antisemitismus und kann weniger dem Gericht als vielmehr der Kommission angelastet werden. Insbesondere vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kritik an der Nordzypern-Rechtsprechung als Bevorzugung Israels kann das Urteil als konsistente Rechtsprechung betrachtet werden.
Zitiervorschlag: Hock, Doppelstandard oder Konsistenz? Der EuGH zur Kennzeichnungspflicht von Siedlungsprodukten, JuWissBlog Nr. 98/2019 v. 22.11.2019, https://www.juwiss.de/98-2019/.
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