„Grundrechte als Supergrundrechte“

Von BENJAMIN RUSTEBERG

RustebergWenn jemand, noch dazu nicht irgendjemand, sondern der Bundesinnenminister, von einem Supergrundrecht auf Sicherheit fabuliert, fordert dies zu Recht Widerspruch heraus. Die öffentlichen Reaktionen reichen von Empörung, über Belustigung, bis hin zu Ekel. Unlängst hat Jasper Finke es an dieser Stelle unternommen, den Erwiderungen eine spezifisch verfassungsrechtliche Sichtweise hinzuzufügen. Auch hier ist das Ergebnis klar: Ein Supergrundrecht auf Sicherheit kenne die deutsche Verfassungsordnung schlicht nicht.

Dabei liegt es mir fern, der Debatte in ihrem einhelligen Ergebnis, der Ablehnung eines solchen Supergrundrechts, zu widersprechen. Im Folgenden möchte ich mich aber gegen den Eindruck wenden, ein solches Supergrundrecht stünde der herrschenden Interpretation der Verfassungsordnung des Grundgesetzes derart diametral entgegen, wie dies die Einhelligkeit der Reaktionen suggeriert. Wenn dies gerade in einer Auseinandersetzung mit dem Beitrag Finkes geschieht, dann weniger, weil mir der Beitrag als besonders kritikwürdig erschiene, als vielmehr deswegen, weil er die Ansicht der herrschenden Meinung besonders anschaulich zum Ausdruck bringt.

Freiheit und Sicherheit auf einer Stufe – Der Weg zum Supergrundrecht

In seinem Beitrag wendet sich Finke zunächst gegen einen Grundrechtscharakter der Sicherheit. Sicherheit sei zwar ein berechtigtes staatliches Anliegen, aber eben auch nicht mehr. In einem zweiten Schritt unternimmt Finke es, die Existenz eines Supergrundrechts auf Sicherheit zu widerlegen. Dazu betont Finke die Gleichordnung des staatlicherseits verfolgten Zwecks der „Sicherheit“ mit den Grundrechten. Diese stünden „gerade nicht auf einer kategorisch anderen Stufe“. Soweit das Gewicht der Sicherheitsbedenken zu berücksichtigen sei, handele es sich um eine „Gewichtung der betroffenen Interessen im konkreten Fall“ und „nicht um einen prinzipiellen Vorrang der Sicherheit vor der Freiheit“.

Diese Argumentation fußt unverkennbar auf der Idee der Grundrechte als Elemente einer auf Ausgleich bedachten objektiven Ordnung, wie sie durch das Bundesverfassungsgericht in der Lüth-Entscheidung zunächst erdacht und über die Jahrzehnte – auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Sicherheit und grundrechtlich geschützter Freiheit (vgl. etwa BVerfGE 49, 24, 54 ff.) – weiterentwickelt wurde. Dabei ist die freiheitsbejahende Intention von Finkes Argumentation eindeutig. Dennoch ist aus meiner Sicht gerade diese Argumentation ursächlich dafür, dass so etwas wie ein Grundrecht auf Sicherheit überhaupt Eingang in die Debatte finden kann.

Grundrechte als Staatsziele – Staatsziele als Grundrechte

Denn als Elemente einer objektiven Ordnung befinden sich Grundrechte eben nicht nur „nicht auf einer kategorisch anderen Stufe“ zu den übrigen, staatlicherseits verfolgten Zwecken. Sie gleichen sich diesen sogar weitgehend an. Unabhängig davon, ob es um die Herstellung öffentlicher Sicherheit oder um den Schutz der Privatsphäre geht: Bei ihrer Anwendung sind die Grundrechte mit den anderen Verfassungsgütern in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Staatliches Handeln dient damit nach beiden Seiten der Verwirklichung einer in der Verfassung angelegten objektiven Ordnung. Damit wird der Grundrechtsschutz nicht nur ebenso rechtfertigungsbedürftig wie die Verfolgung sonstiger, als Verfassungsgut ausgewiesener Zwecke staatlichen Handelns. Vielmehr wandeln die Grundrechte sich auch von subjektiven Rechten des Einzelnen zu Staatszielen. Von anderen Verfassungsgütern unterscheidet Grundrechte dann vor allem noch die Fähigkeit des Einzelnen, sich subjektiv auf sie zu berufen. Angesichts der Elfes-Doktrin verliert freilich auch dieser Unterschied viel an Schärfe.

Vor dem Hintergrund dieser Angleichung von Grundrechten und sonstigen Zwecken staatlichen Handelns wird aber deutlich, dass die Postulation eines Verfassungsguts Sicherheit keineswegs konträr zur herrschenden Grundrechtstheorie liegt; sie folgt vielmehr deren inhärenter Logik. Denn auch wenn das Grundrecht auf Sicherheit aus den Voraussetzungen von Staatlichkeit und Grundrechtsgeltung überhaupt abgeleitet wird: Seine eigentliche grundrechtsdogmatische Wirkung entfaltet es erst im Zusammenspiel mit jener Konstruktion der Grundrechte als Elemente einer objektiven Ordnung. Zur Ausrufung eines Grundrechts, dem wohl vor allem noch prozessrechtliche Bedeutung zukommen dürfte, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. So bleibt am Ende auch Finke nur der Verweis auf die Wortlautgrenze als schlagendes Argument für die Nichtexistenz eines Grundrechts auf Sicherheit. Konsequenterweise müsste dies dann aber wohl ebenso für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gelten.

Die „Abwägungsfalle“

Ein abstrakter Vorrang des Verfassungsguts Sicherheit ergibt sich aus all dem zwar tatsächlich nicht. Es entspricht allerdings gerade der Logik der Sicherheitsapologeten, die Grundrechte in diese „Abwägungsfalle“ (O. Lepsius) hineinzutreiben. Denn dem Schutzgut Sicherheit steht normalerweise eben nicht der „Super“-Eingriff einer flächendeckenden Rundumüberwachung gegenüber. Im Regelfall sollen sich vielmehr die Rechte Einzelner gegen ein Verfassungsgut durchsetzen, das sich als Voraussetzung von Staatlichkeit und Grundrechtsschutz überhaupt geriert.

In dieser verfahrenen Lage ist nicht weiter verwunderlich, wenn Vertreter der Grundrechtsinteressen bei diesem Wettrüsten munter mitmischen und nun ihrerseits ein weiteres „Supergrundrecht“ in Stellung bringen, nämlich die Menschenwürde. Dies geschieht dann freilich zumeist um den Preis, die Stellung der speziellen Grundrechtsgewährleistungen kampflos zu räumen. So steht die Wesensgehaltgarantie, deren Bedeutung Finke betont, nach herrschender Ansicht genauso unter dem Vorbehalt kollidierender Interessen wie der Rest des Grundrechts.

Grundrechte als Beschränkung staatlicher Effizienz

Was bleibt als Alternative? Die Absage an ein Supergrundrecht auf Sicherheit wäre wohl sehr viel überzeugender, wenn sie damit einherginge, Grundrechte und sonstige Verfassungsgüter nicht länger als auf einer Ebene angesiedelt anzusehen. Grundrechte und sonstige Verfassungsgüter sind vielmehr kategorial voneinander zu unterscheiden. Rechtsgüter wie Sicherheit oder Effizienz der Strafrechtspflege stellen gerade kein verfassungsrechtliches Pendant zu Grundrechten dar. Ingeborg Maus weist zu Recht darauf hin, dass die Effizienz der Staatsapparate „nie selbst Inhalt eines Verfassungsprinzips sein [könne], weil die ratio essendi der Verfassung gerade darin besteht, diese Effizienz zu beschränken.“ (Rechtstheorie 20 [1989], 191, 196 f.)

Grundrechte sind staatlichem Handeln damit kategorial entgegengesetzt. Einzelner Supergrundrechte bedarf es nach dieser Konzeption nicht mehr. Vielmehr sind sämtliche Grundrechte staatlich verfolgten Zwecken rechtlich vorgeordnet. Ihre effektive Reichweite ist damit nicht mehr durch Einzelfallabwägung kollidierender Verfassungsgüter, sondern abstrakt aus sich heraus zu bestimmen. Nur so können die Grundrechte auch die ihnen grundrechtstheoretisch zugedachte Aufgabe als gegen Allgemeinwohlinteressen gerichtete „Trümpfe“ des Einzelnen (R. Dworkin) zuverlässig erfüllen.

Wie die dogmatische Umsetzung eines derartigen Verständnisses der Grundrechte für das Grundgesetz aussehen kann, dafür hat Ernst-Wolfgang Böckenförde mit dem grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt den entscheidenden Ansatz geliefert. Dieser kann gerade auch zur Bestimmung des Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit fruchtbar gemacht werden.

Benjamin Rusteberg, Freiheit, Gewährleistungsgehalt, Grundrechte, Sicherheit, Supergrundrecht, Verfassungsrecht, Verhältnismäßigkeit
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Christoph Smets
    7. August 2013 19:26

    Bevor man mir gegenteiliges nachsagt: Auch ich befürworte keine „Supergrundrechte“, obwohl man sich klar sein muss, dass die Rspr. des BVerfG sehr wohl erkennen lässt, dass manche Grundrechte eben gleicher sind als andere (Art. 5 I 1, 1. Alt., Art. 1).

    Aber ich möchte dann doch gerne kurz auf die EMRK hinweisen: Diese kennt nämlich in Art. 5 I 1 GG sehr wohl ein Menschen(!)recht auf Sicherheit und der EGMR hat bspw. im Gefolge der McCann-Rspr. auch Schutzpflichten des Staates in Bezug auf das Leben seiner Bürger gefordert, ebenso wie das BVerfG (etwa in BVerfGE 77, 170). Im Gefolge der Görgülü-Rspr. steht die EMRK zwar noch immer nicht im Range des GG, ist aber bei der Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts heranzuziehen.

    Wohlgemerkt bezogen sich diese Schutzpflichten (natürlich) auf staatliches Handeln. In der momentan wohl auch dem Minister vorschwebenden Debatte geht es um Eingriffe Privater in die Sicherheit, teils das Leben der Bürger.

    Zu guter Letzt: Ob man die Ansicht der Grundrechte als „objektive Ordnung“ begraben muss, um den Desideraten eines beginnenden Überwachungsstaats zu entkommen, ist ganz entscheidend abhängig von der Auffassung vom Inhalt einer solchen. Die Staatsziele und -zwecke sind am augenfälligsten in Art. 20 statuiert. Eine ausdrückliche Schutzverpflichtung findet sich in Bezug auf die Grundrechte nur noch in Art. 1 I 2 GG. Für Bedenkenswert halte ich hier aber Art. 1 III GG: Alle Gewalten sind an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Damit transzendieren die GRe den Einzelnen: Es ist dies nicht nur eine Abkehr von den (teilweisen) Programmgrundrechten der WR; vielmehr ist die Garantie der Bindung an die GRe, so sie nur konkret-individuelle Bedeutung haben sollten, eigentlich (so) nicht nötig, wenn sich nur der Einzelne vor (Verfassungs-)Gericht darauf berufen sollen könnte. Auch merkt man, sobald man einen Schritt zurück tritt, dass der Staatscharakter der BRD nicht nur aus seinem Organisationsrecht gezogen wird: Würde des Menschen, Recht auf Leben und Freiheit, rechtliches Gehör und Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit begründen allein durch die Tatsache, dass sie garantiert sind einen Staat freiheitlich-demokratisch-rechtsstaatlicher Prägung. Auch insofern handelt es sich hier sehr wohl um eine „objektiv(e feststellbare) Ordnung“.

    Potentiell immer kritisch zu beobachten ist aber das Induktions-Deduktionsspiel, dass das BVerfG mancherorts betreibt: Erst wird aus einigen Vorschriften in einer Gesamtschau ein bestimmtes „Prinzip“ gelesen (etwa die „Völkerrechtsfreundlichkeit“, die „Europarechtsfreundlichkeit“), um dann aus diesem (nicht aus konkreten Vorschriften) eine (Verfassungs-)Rechtsfolge herzuleiten. Auf der anderen Seite wird es immer nötig sein, die geradezu apodiktisch kurzen Vorschriften des Verfassungsrechts einer dann verfassungsrichterrechtlichen „Auslegung“ zuzuführen.

    Zusammenfassend also: Ich denke nicht, dass es nötig ist, eine „objektive Ordnung“ zu verneinen, um der Idee eine Supergrundrechts aus einer Staatsaufgabe entgegenzutreten.

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