In seiner Großen-Kammer-Entscheidung in der Rechtssache Vavřička und Andere/Tschechien vom 8. April 2021 hat der EGMR mit einer Mehrheit von 16:1 entschieden, dass eine Impfpflicht zum Schutz vor gefährlichen Krankheiten gerechtfertigt sein kann, um die notwendige Herdenimmunität zu erreichen oder zu erhalten. Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt betrifft zwar die Impfpflicht von Kindern gegen bekannte, teils hochinfektiöse Krankheiten, könnte aber auch richtungsweisend für die aktuelle gesellschaftspolitische Debatte über den Umgang mit Covid-19 sein.
Impfnachweis als Voraussetzung für Kinderbetreuung
In Tschechien sind Eltern dazu verpflichtet, ihre Kinder gegen neun bekannte Krankheiten zu impfen, damit diese den Kindergarten besuchen dürfen. Verstöße gegen die Impfpflicht werden mit Verwaltungsstrafen und der Verwehrung eines Betreuungsplatzes geahndet. Mithilfe der Impfpflicht sollen Risiken für die öffentliche Gesundheit minimiert werden. Ziel ist es, eine möglichst große Herdenimmunität zu schaffen, die insbesondere auch jenen Kindern zugutekommt, die aufgrund medizinischer Indikationen nicht geimpft werden können. Der Ausschluss aus Betreuungsstätten gilt nur so lange, bis die Kinder das schulpflichtige Alter erreicht haben. Eine zwangsweise Impfung von Kindern ist nicht vorgesehen.
Bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Impfpflicht mit den Konventionsrechten beschränkte sich der EGMR auf eine ausführliche Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Recht auf Privatleben gem. Artikel 8 EMRK. Dieses beinhaltet auch das Recht der Kinder, ihre sozialen Kompetenzen zu entwickeln und zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Der EGMR betonte zunächst, dass Staaten aufgrund des Subsidiaritätsprinzips besonders in gesundheitspolitischen Fragen besser in der Lage sind, zu beurteilen welcher Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft für den Schutz der Gesundheit notwendig ist (Rn 274). Hinsichtlich der Notwendigkeit einer Impfpflicht konnte zudem kein gemeinsamer europäischer Konsens im Wege der Rechtsvergleichung ermittelt werden (Rn 278), sodass der EGMR Tschechien einen weiten margin of appreciation (Bewertungsspielraum) zusprach (Rn 276-280). Eine zentrale Frage stellte der Umstand dar, inwiefern der Ausschluss der Kinder und somit ein Eingriff in deren Rechte, aufgrund einer Entscheidung, die die Eltern für sie getroffen haben, gerechtfertigt sein könne. Diesbezüglich kam der EGMR in Rn 306 des Urteils zu folgendem Schluss:
„The Court accepts that the exclusion of the applicants from preschool meant the loss of an important opportunity for these young children to develop their personalities and to begin to acquire important social and learning skills in a formative pedagogical environment. However, that was the direct consequence of the choice made by their respective parents to decline to comply with a legal duty, the purpose of which is to protect health, in particular in that age group. Moreover, the possibility of attendance at preschool of children who cannot be vaccinated for medical reasons depends on a very high rate of vaccination among other children against contagious diseases. The Court considers that it cannot be regarded as disproportionate for a State to require those for whom vaccination represents a remote risk to health to accept this universally practised protective measure, as a matter of legal duty and in the name of social solidarity, for the sake of the small number of vulnerable children who are unable to benefit from vaccination.”
Kindeswohl als Α und Ω
Dadurch, dass der vorliegende Sachverhalt die Impfpflicht von Kindern im Fokus hatte, spielte das Kindeswohl in der Entscheidung des EGMR eine besondere Rolle. Der EGMR rekurriert in ständiger Rechtsprechung in Fällen betreffend Kinder auf Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention, welcher vorsieht, dass das Kindeswohl bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu beachten ist. Im vorliegenden Fall gelangte der EGMR zur Ansicht, dass eine Immunisierung vor gefährlichen Krankheiten, gegen die bereits effektive Impfungen bestehen und welche nur mit einem minimalen Risiko einhergehen, jedenfalls dem Wohl der Kinder dient. Durch die Impfung jener Kinder, welche dadurch nur einem minimalen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt sind, werden andere Kinder, bei denen sowohl eine Impfung als auch die Krankheit, vor der sie schützen soll, gravierende Folgen hätte, mitgeschützt. Die Impfung eines Einzelnen dient somit den Interessen der Kinder als Gruppe.
Sofern Staaten – wie Tschechien – eine Impfpflicht gesetzlich vorschreiben, Ausnahmen zulassen, für den Fall des Nichtbefolgens Verwaltungsstrafen und keine zwangsweise Impfung durchführen sowie ein effektives Beschwerdesystem vorsehen, ist eine Impfpflicht also mit dem Konventionssystem vereinbar. Eine Erörterung, ob die Einführung einer Impfpflicht notwendig war, da gelindere Maßnahmen zuvor das Ziel der Herdenimmunität vereitelt haben, erfolgte aufgrund der zugesprochenen margin of appreciation nicht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass bei einer zwangsweisen Impfung a) der margin of appreciation nicht bestünde und b) ein Ausschluss aus der Schule wohl ebenso eine strengere europäische Kontrolle zur Folge hätte.
Rechte sind keine Einbahnstraße
Richter Lemmens hob in seinem Sondervotum hervor, dass das Urteil die Relevanz und den Wert der gesellschaftlichen Solidarität unterstreicht und begrüßte diese Gewichtung ausdrücklich. Es werde dadurch ein klares Zeichen gesetzt, dass mit Rechten sowohl Pflichten als auch eine bestimmte Verantwortung einhergehen. Er monierte jedoch, dass eine nähere Auseinandersetzung mit dem Recht auf Bildung und inwiefern Vorschulerziehung davon mitumfasst ist, wünschenswert gewesen wäre. Richter Wojtyczek, schloss sich der Mehrheitsentscheidung nicht an, da er mit den Argumenten der tschechischen Regierung und der Begründung der Mehrheit nicht einverstanden war. Im Gegensatz zu Richter Lemmens, störte ihn die Stützung des Urteils auf den unbestimmten Begriff der gesellschaftlichen Solidarität. Zudem wäre seines Erachtens, eine differenzierte Auseinandersetzung mit den einzelnen in Frage stehenden Impfungen von Nöten gewesen. Zuzana Vikarská teilt die Kritik von Richter Wojtyczeck und spricht von einer „missed opportunity to offer a truly persuasive reasoning“.
Im Hinblick auf die aktuellen Gegebenheiten regt das Urteil des EGMR zu folgenden Überlegungen an. Wenn es verhältnismäßig ist, Kindern, die nicht geimpft sind, von der Teilnahme am Kindergarten auszuschließen, kann es dann unverhältnismäßig sein, Personen, die eine Impfung gegen Covid-19 verweigern, aus Lokalen, Beherbergungsbetrieben, Kulturstätten oder dem Handel auszuschließen? Diese Bereiche betreffen zweifelsfrei das Privatleben. Erfordert zudem nicht gerade das Kindeswohl, dass sich all jene, die sich bereits gegen Covid-19 impfen lassen können –insbesondere Lehrpersonen und Betreuungspersonen von Kindern und Jugendlichen – dies tun und damit auch Jüngere vor einer Ansteckung und möglichen Langzeitfolgen einer Infektion schützen? Eines ist jedenfalls klar: Die Einführung einer Impfpflicht ist aus rechtlicher Sicht unbedenklicher, als man auf den ersten Blick annehmen könnte.