Nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO die zunehmende Impfmüdigkeit insbesondere in westlichen Ländern jüngst in die Liste der „globalen Gesundheitsbedrohungen“aufnahm, kocht die Kontroverse um die moralische und ethische Vertretbarkeit einer allgemeinen Verpflichtung zur Masernimpfung erneut hoch. Das Ziel der Masernelimination bis 2020 wird Deutschland aller Voraussicht nach (wie schon 2015) ein zweites Mal deutlich verfehlen. Von einigen bundespolitischen Akteuren sind spontane Forderungen nach der Einführung einer allgemeinen Masern-Impfpflicht zu vernehmen, deren Prüfung sich mittlerweile sogar der Deutsche Ethikrat auf die Agenda geschrieben hat.
Alarmierende epidemiologische Entwicklung
Was oftmals allenfalls noch der Generation der vor 1976 Geborenen bewusst ist: Es wäre nicht die erste Impfpflicht in Deutschland. Bis in die 1970er Jahre herrschte – noch auf Grundlage des Reichsimpfgesetzes von 1874 – eine allgemeine Impfpflicht gegen die Pocken. Diese sind auch dank der Impfpflicht mittlerweile weltweit ausgerottet. Ohne eine Bewertung der damaligen, überaus unkritischen Beurteilung der Pockenimpfpflicht durch die Rechtsprechung vornehmen zu wollen, widerspräche es eigentlich jeglicher Vernunft, diesen Effekt nicht als absolut positiv zu bewerten.
Die Anzahl der Masernerkrankungen in Europa hat sich dagegen allein im ersten Halbjahr 2018 im Vergleich zum gesamten Jahr 2016 verachtfacht. Die individuellen Gründe, sich gegen Impfungen zu entscheiden oder in heutiger Zeit deren medizinische Wirksamkeit anzuzweifeln, sind vielfältig, wenn auch nicht immer nachvollziehbar.
Dagegen steht der in der Medizin völlig unumstrittene epidemiologische Nutzen von Impfungen für die Herstellung einer Herdenimmunität. Diese ist unerlässlich, um die Ansteckung und Verbreitung durch Schließung von Impflücken zu verhindern und dadurch auch diejenigen zu schützen, die aufgrund eigener Disposition darauf angewiesen sind, nicht von Ungeimpften angesteckt zu werden. Ohne die Herdenimmunität sind Säuglinge, Kleinkinder, Immunsupprimierte und anderweitig Vorerkrankte aufgrund der Übertragung durch sog. „Tröpfcheninfektion“ (durch Niesen, Husten etc.) der Gefahr der Ansteckung in ganz alltäglichen Situationen nahezu schutzlos ausgesetzt. In moralischer Hinsicht dürften sich also eigentlich gar nicht erst individuelle Zweifel an der Impfung in den Vordergrund drängen, sondern die soziale Verantwortung, mit relativ geringem Aufwand nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen vor der Ansteckung mit Krankheiten, die z.T. gravierende Folgen haben können (z.B. die stets tödlich verlaufende Gehirnentzündung SSPE als Spätfolge von Masern), zu schützen.
Das Grundrechtsdreieck als Ausgangspunkt der rechtlichen Betrachtung
Aus rechtlicher Sicht muss die Frage jedoch ohne jegliche Sentimentalität gestellt und beantwortet werden. Der Appell an den potenziellen Impfling, sich durch die Impfung selbst zu schützen, erweist sich aus grundrechtlicher Perspektive als Nebelkerze: Zwar schützte eine Impfpflicht auch den Geimpften selbst vor der Gefahr der Ansteckung, damit würden jedoch Impfunwillige vor Gesundheitsgefahren geschützt, denen sie sich gerade freiwillig aussetzen und auch aussetzen dürfen. Den impfunwilligen Träger des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegen seinen Willen vor eigener Unvernunft zu schützen, bedeutete, die abwehrrechtliche Dimension des Grundrechts unter dem Deckmantel des staatlichen Paternalismus gegen den Träger selbst zu richten.
Dass in der Regel Kinder betroffen sind, die zuvörderst der Pflege ihrer Eltern unterstehen, welche mit der diktierten Impfentscheidung ihrerseits eine Verletzung ihres Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG rügen könnten, ändert an der Grundrechtsposition der Impflinge selbst nichts. Ob sich eine Entscheidung gegen die Impfung aber überhaupt innerhalb der Grenzen des Elterngrundrechts bewegt, ist angesichts der Tendenz des BGH, die Impfung als Teil des Kindeswohls zu betrachten, über die unter bestimmten Voraussetzungen im Zweifelsfalle der die Impfung bejahendeElternteil allein entscheiden darf, schon fraglich.
Gleichwohl beträfe eine allgemeine Masern-Impfpflicht – so sie denn die vom Gesetzgeber favorisierte Maßnahme zur Erreichung der Masernelimination sein sollte – ohne Frage Schutzaspekte, und zwar in Gestalt der Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit für die Gruppe der Impfunfähigen. Diese Schutzpflicht, die aufgrund der Wertigkeit des Schutzgutes bereits durch die bestehende Ansteckungsgefahr als aktiviert zu betrachten ist, steht im Grundrechtsdreieck auf der Seite der schutzbedürftigen Impfunfähigen der Abwehrrechtsdimension des gleichen Grundrechts gegenüber, die ihrerseits für die zu Impfenden streitet. Die elementare Kernfrage lautet also: Überwiegt die Schutzbedürftigkeit der Impfunfähigen vor Ansteckung oder der durch das Abwehrrecht vermittelte Schutz der Übrigen vor dem zumeist harmlosen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit?
Risikobedingte Abwägungsunsicherheiten
Im Zentrum der Rechtsfrage steht also in Bezug auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit die Auflösung der Kollision von Schutzpflicht- und Abwehrrechtsdimension. Die Herstellung der praktischen Konkordanz wird nicht dadurch vereinfacht, dass sich auf beiden Seiten des Grundrechtsdreiecks das gleiche Grundrecht, nur in verschiedenen Dimensionen gegenübersteht, zwischen denen abstrakte Gleichwertigkeit besteht.
Aber auch die konkrete Abwägung zwischen Schutz der Impfunfähigen vor ansteckenden Dritten und Abwehrgrundrechtsträgern vor dem staatlichen Eingriff wird dadurch erschwert, dass im Bereich beider Grundrechtsdimensionen in tatsächlicher Hinsicht Risiken mitschwingen. Auf der Seite der zu Schützenden ist die Ansteckung auch bei fehlendem Schutz durch Herdenimmunität nicht sicher prognostizierbar (es ist also nicht sicher, ob sich eine bestehende latente Gefahr tatsächlich realisieren wird), auf der Seite der Impfpflichtigen ist das Risiko einer Impfschädigung trotz hoher Anforderungen an die Sicherheit der Impfstoffe nicht gänzlich auszuschließen. Der Grundsatz, dass von jeder Grundrechtsposition möglichst viel übrigbleiben müsse, hilft dann in seiner Pauschalität nicht weiter, ebenso wenig wie verfassungsrechtlich anerkannte Kriterien wie die verfassungsrechtliche Bedeutung der kollidierenden Güter, die auf beiden Seiten identisch ist.
Weiterhelfen kann nur ein Blick auf die Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin, die Auskunft darüber geben, wie groß das Realisierungsrisiko bzw. die Gefahrennähe der jeweiligen Grundrechtsdimensionen tatsächlich ist.
In Bezug auf Masern sprechen diese Erkenntnisse eine deutliche Sprache: Die Basisreproduktionszahl des Masernvirus liegt bei 15, das bedeutet eine Weitergabe des Erregers von einem Infizierten an 15 andere Personen. Zudem liegt der Kontagionsindex (Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Krankheitserregers) bei über 0,95, also erkranken tatsächlich beinahe alle 15 Personen nach Kontakt mit dem Masernvirus, sofern sie nicht immunisiert sind. Die tödliche Spätfolge SSPE tritt in etwa 0,1 % dieser Fälle auf. Demgegenüber beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Nebenwirkung der Masern-Mumps-Röteln-Kombinationsimpfung (MMR) nur max. 5 % (bei den Nebenwirkungen „Fieber“ und „Hautausschlag“; ein echter Impfschaden in Form der Enzephalitis kommt in weniger als 0,00001 % der Impfungen und damit zehntausendmal seltener vor als bei der Masernerkrankung selbst). Die Gefahr für Ungeimpfte, bei der derzeitigen infektiologischen Lage an Masern zu erkranken, ist daher deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der MMR-Impfung ausgesetzt zu sein. Das Abwehrrecht, in das eine Impfpflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger eingriffe, kann aufgrund geringerer Gefahrennähe daher weniger Gewicht für sich beanspruchen als die Schutzpflicht für impfunfähige Grundrechtsträger.
Ob dieses klare Ergebnis bei einer Abwägung zwischen angeführter Schutzpflicht für Art. 2 Abs. 2 GG und dem Elterngrundrecht demgegenüber anders ausfiele, darf stark bezweifelt werden.
Dies hat auch in Anbetracht von Maßnahmen Bestand, die weniger eingriffsintensiv sind, da angesichts der ideologischen Aufladung der „Impffrage“ zweifelhaft ist, ob etwa eine Beratungspflicht vor dem Kita-Besuch eines Kindes gem. § 34 10a Infektionsschutzgesetz(IfSG) dessen Eltern, die überzeugte Impfgegner sind, wirklich beeindrucken kann. Den Kindergartenbesuch eines Kindes gleich ganz an die erfolgte Impfung zu knüpfen, scheint ebenfalls wenig erfolgversprechend zu sein: Vielmehr liegt hierin die Gefahr der privaten Einrichtung von Gruppen völlig ungeimpfter Kinder, innerhalb derer eine Ausbreitung des Erregers (ähnlich wie bei einer „Masernparty“) geradezu provoziert wird. Die fahrlässige Infektion des Kindes mit einer lebensbedrohenden Krankheit steht jedenfalls deutlich im Widerspruch zum Kindeswohl.
Ständige Überprüfung der gesetzgeberischen Entscheidung für eine Impfpflicht
Wirklich überzeugende Einwände gegen die Einführung einer allgemeinen Masern-Impfpflicht gibt es deshalb nicht. Diese Einschätzung wird bestätigt, wenn man einen Blick über den nationalen Tellerrand hinaus nach Frankreich und Italien wagt, wo seit wenigen Jahren jeweils Impfpflichten gegen zehn bzw. elf Infektionskrankheiten erste Erfolge zeigen.
Dennoch gilt: Die gesetzgeberische Entscheidung für oder gegen eine Impfpflicht muss auf medizinischen Erkenntnissen beruhen, deren Entwicklung dauerhaft im Blick behalten werden muss. Die Grundrechtsabwägung hat stets anhand einer sorgfältigen Risikogegenüberstellung für beide kollidierenden Grundrechtsdimensionen zu erfolgen. Dass eine allgemeine Impfpflicht gegen Masern derzeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre, gilt jedenfalls nicht für alle Zeit, sondern bedarf immer wieder einer aktualisierenden Neubewertung anhand medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse. Vor allem ist dieses Ergebnis aufgrund der Krankheits- und impfspezifischen Besonderheiten von Masern und Masernimpfung nicht per se auf andere Infektionskrankheiten übertragbar.
Zitiervorschlag: Gebhard, Impfpflicht vs. grundrechtliche Freiheit – oder: Was schützt wen eigentlich wovor, JuWissBlog Nr. 35/2019 v. 5.3.2019, https://www.juwiss.de/35-2019/
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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Alles schön und einfach so lange man keinen Impfschaden bei eigenem Kind erlebt und dann trotzdem weiter impfen sollte. Gibt es Risiko beim Impfen? Ja, gibt es. Dann sollte es auch eine freie Wahle geben.
Es gibt einige logische Brüche in diesem Bericht:
>Wahrscheinlichkeit einer Nebenwirkung der Masern-Mumps-Röteln-Kombinationsimpfung (MMR) nur max. 5 % – wird ironischer Weise als sehr kleiner Wert dargestellt.
>Die Spätfolge SSPE tritt in etwa 0,1 %
ist 50-fach geringer, marginal, soll aber die tödlich Bedrohung der Allgemeinheit aufzeigen. SSPE kann nur bei einer Masernerkrankung auftreten, die innerhalb der ersten (bis 12.) Lebensmonaten auftreten. Eine spätere Masern-Erkrankung z.B. beim Erwachsenen oder Jugendlichen führt bei Prüfung der medizinischen Literatur nicht zur SSPE. Sehr wohl kann SSPE im jugendlichen Alter letal sichtbar werden.
> Masernerkrankungen hat …2018 im Vergleich zum Jahr 2016 verachtfacht.
Die Fallzahlen schwanken von Jahr zu Jahr. Ein beliebiges Jahr mit besonders wenigen Erkrankungen einem anderen, mit ausnahmsweise vielen Erkrankungen herauszupicken und gegenüberzustellen, ist ein billiger statistischer Trick. Das belegt jedoch keinerlei Trendwenden oder gar echten Bedrohungsszenarien. Weitet man den Blick auf einen statistisch ausssagekräftigeren Zeitraum von 10, 20 oder besser noch mehr Jahren, erkennt man eine asymtotischen Näherung der Fallzahlen gegen Null.
Man sollte einfach die Möglichkeiten ausschöpfen die Eltern für diese Thema zu erreichen. Eine Impfpflicht sollte das allerletzte Mittel sein, um eine Seuche zu verhindern oder einzudämmen. Wenn die Impfungen in den Kitas im Rahmen der Freiwilligkeit angeboten werden würden, dann wäre die Impfquote viel höher. Jungen Familien fehlt oft einfach die Zeit mit einem gesunden Kind wegen einer Impfung zum Kinderarzt zu gehen und dort stundenlang zu warten, bis man dran kommt.
Was ist mit Art 1 I Satz 1 GG?
Die Argumentation ist in soweit schlüssig,nachvollziehbar und vertretbar. Allerdings ist die Auslegung und Subsumtion im Bezug auf Art 1 I Satz 1 GG ausgelassen worden, ob wohl sie hätte explizit in dem Rahmen erörtert werden müssen.
Es gibt nur wenige Bereiche des täglichen Lebens, die so klar in den innersten Privatbereich gehören, wie die Bestimmung über die Verletzung von den eigenen Körpergrenzen und selten wird etwas als noch entwürdigender von einem Individuum aufgenommen. Daher halte ich einen der Bereiche der Menschenwürde für mehr als eröffnet.
Liebe Grüße