von NAVIN MIENERT

Die Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Courts in der Rechtssache Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, in der die verfassungsrechtliche Verankerung des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch im Recht auf Privatsphäre aufgehoben wurde, zwingt zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Verortung von elementaren Rechten von Frauen und sexuellen Minderheiten im Recht auf Privatsphäre.

Das Recht auf Privatsphäre im Lichte der jüngsten Entscheidung

Das Recht auf Privatsphäre wurde vom Supreme Court in mehreren Entscheidungen aus der sog. due process clause (Recht auf ein ordentliches Verfahren) des 14. Zusatzartikels zur US-amerikanischen Verfassung hergeleitet. Danach beinhalte das Recht auf ein ordentliches Verfahren neben einer prozeduralen auch eine substanzielle Seite, die ein Recht auf Privatsphäre gewährleiste. (Zur Herleitung und den einzelnen Entscheidungen siehe Chiofalo, Verfassungsblog, 04.05.22) Aus diesem Recht auf Privatsphäre hat der Supreme Court neben dem Recht auf Abtreibung in der Entscheidung Roe v. Wade unter anderem auch das Recht auf Schutz vor staatlicher Beschränkung der Empfängnisverhütung in Griswold v. Connecticut – in dieser Entscheidung wurde das Recht auf Privatsphäre von der Mehrheit der Richter noch mit verschiedenen Garantien der Verfassung und nicht ausschließlich mit der due process clause begründet – hergeleitet. Überdies bildete das Recht auf Privatsphäre auch die Grundlage für die Entscheidungen des Supreme Courts in den Rechtssachen Lawrence v. Texas, wonach die strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen verfassungswidrig sei, sowie Obergefell v. Hodges, in der das Recht auf Eheschließung als dem Konzept individueller Autonomie inhärentes Grundrecht auch gleichgeschlechtlichen Paaren zugesprochen wurde.

Mit der jüngsten Entscheidung des Supreme Courts zum Recht auf Privatsphäre stehen auch die weiteren bisher garantierten Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten zur Debatte. So schreibt der Supreme Court Richter Clarence Thomas in seinem der Mehrheitsentscheidung in der Rechtssache Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization zustimmenden Votum:

“For that reason, in future cases, we should reconsider all of this Court’s substantive due process precedents, including Griswold, Lawrence, and Obergefell. Because any substantive due process decision is ‘demonstrably erroneous,’ […] we have a duty to ‘correct the error’ established in those precedents […].”

In diesem Ausschnitt aus seinem Votum zeigt sich, wie sich die zukünftige Rechtsprechung des Supreme Courts entwickeln könnte und welche Bedeutung das Grundsatzurteil zur Verankerung des Rechts auf Abtreibung in der Verfassung hat. Es stellt sich somit die Frage, inwieweit das Recht auf Privatsphäre von Anfang an der richtige Ansatzpunkt für die Herleitung dieser Rechte war.

Ungleichheit im Privaten

All die oben genannten Entscheidungen des Supreme Courts haben die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten in den Vereinigten Staaten geprägt. Sie haben dabei alle die Prämisse, dass durch die Nichteinmischung des Staates in eine persönliche Sphäre, dessen Reichweite vom Gericht von Entscheidung zu Entscheidung ausgehandelt wird, ein privater Raum der Freiheit geschaffen wird, in der das Individuum eine freie Wahl hinsichtlich ihrer*seiner Lebensmöglichkeiten hat. Diese Prämisse vernachlässigt jedoch, dass das Individuum in gesellschaftlichen Verhältnissen existiert und nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit anderen Menschen in einer dauernden wechselseitigen Beziehung steht oder setzt zumindest ein Ideal gesellschaftlicher Gleichberechtigung voraus, welches so weder in den Vereinigten Staaten, noch anderswo zu finden ist.

Im Gegenteil, die gesellschaftlichen Verhältnisse sind geprägt durch patriarchale Strukturen und geschlechtliche Hierarchie, geschaffen durch sexuelle männliche Dominanz. Sexualität unter den bestehenden sozialen Bedingungen der Geschlechterungleichheit prägt, wenn sie als Ungleichheit praktiziert wird, die gesellschaftliche Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie ihre übrige Rolle in der Gesellschaft. Ein Konzept des Privaten schafft dementsprechend einen Raum, in dem sexualisierte Gewalt und geschlechtliche Unterdrückung der gesellschaftlichen Verantwortung entzogen werden und lässt die Betroffene allein. Ein Recht auf Abtreibung und Wahl der Empfängnisverhütung als Recht der eigenen Entscheidung, in dem zugesprochenen privaten Raum, wird so zum Privileg mancher und nicht zum Recht aller. Denn durch die Verlagerung in die private Sphäre fällt der Zugang zu diesen Rechten in die Eigenverantwortung. Gesellschaftliche Strukturen zur diskriminierungsfreien Ermöglichung der effektiven Wahrnehmung dieser Rechte müssen so nicht geschaffen werden. Genauso bleibt sexualisierte Gewalt ein Problem der Einzelnen und nicht eine in unserer Gesellschaft inhärente, strukturell bedingte Problematik. Durch die alleinige Ausweitung dieses privaten Raums auf gleichgeschlechtliche Paare und nichtheterosexuelle Familienkonstellationen ohne ein Angehen der strukturellen Diskriminierung und Gewalt wird eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Problematik vermieden.

Materiale Gleichheit als Antwort

Doch wie könnte ein rechtliches Angehen dieser strukturellen Problematik aussehen. Einen Ansatzpunkt könnte ein materiales Verständnis des Diskriminierungsverbots aufgrund des Geschlechts bieten. Danach ist eine staatliche Maßnahme nicht lediglich darauf zu prüfen, ob sie formal aufgrund des Merkmals Geschlecht unterscheidet, sondern ob sie in einem System geschlechtlicher Ungleichheit, sprich männlicher Dominanz, die Geschlechterhierarchie und Unterdrückung fördert oder zumindest aufrechterhält, ein Ansatz, der insbesondere von der Rechtswissenschaftlerin und Feministin Catharine A. MacKinnon geprägt wurde. Dabei zieht sie einen Vergleich zur Rechtsprechung des Supreme Courts zur rassistischen Diskriminierung. In dessen Urteil in der Rechtssache Loving v. Virginia, in dem er über das Verbot sogenannter „inter-racial marriages“ zu entscheiden hatte, stellte er eine Verletzung des Diskriminierungsverbots aufgrund der Funktion des Gesetzes zur Aufrechterhaltung von „White Supremacy“ fest und ließ die Argumentation, das Gesetz verbiete die Ehe weißen wie auch schwarzen Menschen gleichermaßen, nicht gelten. Dieser Ansatz lässt sich mit MacKinnon auf staatliche Maßnahmen zur Förderung oder Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen übertragen. Materialer Gleichheit liegt dementsprechend ein machttheoretisches Verständnis von Geschlecht zugrunde. Das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts wird folglich nicht als Differenzierungsverbot, sondern als Hierarchisierungsverbot verstanden, so auch Susanne Baer. Es greift danach dort, wo eine soziale Asymmetrie durch Geschlecht herrscht. Für die angeführten Fälle hat dies die Konsequenz, dass nicht lediglich ein privater Bereich ohne staatliche Sanktionierung geschaffen würde, sondern der effektive Zugang zu medizinischen Behandlungen und Präventionsmitteln, spezifisch für Frauen und sexuelle Minderheiten, gewährleistet sein müsste.

Dabei wird auch die Diskriminierung sexueller Minderheiten erfasst. Staatliche Maßnahmen, die Personen beispielsweise aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Sexualität diskriminieren, in extremster Form diese strafrechtlich verfolgen, haben nach MacKinnon die Funktion, einen staatlich festgeschriebenen Zwang zur Heterosexualität als Institution männlicher Dominanz im Geschlechterverhältnis aufrechtzuerhalten. So könnten staatliche Maßnahmen, die nichtheterosexuelle Personen diskriminieren, angegangen werden, ohne einen Raum einer privaten Sphäre zu schaffen, der die strukturelle Problematik sexualisierter Gewalt verschleiert und ungleiche gesellschaftliche Bedingungen perpetuiert. Gleichzeitig müssten Institutionen, denen heteronormative Vorstellungen zugrunde liegen, wie beispielsweise der Ehe, nicht lediglich für gleichgeschlechtliche Paare und nicht heterosexuelle Familienkonstellationen geöffnet, sondern grundsätzlich auf ihre Funktion in einer durch geschlechtliche Hierarchie geprägten Gesellschaft hin untersucht werden.

Die Gerichte müssten sich dementsprechend mit den realen gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen und die Funktion staatlicher Maßnahmen in einer durch Ungleichheit geprägten Gesellschaft untersuchen. In ihrer Argumentation würden sie somit entweder die patriarchalen Verhältnisse oder ihre eigenen Vorstellungen über männliche Dominanz offenlegen.

 

Zitiervorschlag: Mienert, Navin, Gleichberechtigung statt Privatsphäre, JuWissBlog Nr. 35/2022 v. 19.07.2022, https://www.juwiss.de/35-2022/.

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Diskriminierungsverbot, Geschlecht, Materiale Gleichheit, Recht auf Privatsphäre, Supreme Court
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