von JUDITH SIKORA
Vor wenigen Wochen wurde die Ehe für alle durch den neuen § 1353 I 1 BGB eingeführt. Infolge dessen brach eine gesellschaftliche und rechtliche Debatte los, in der die Meinungen weit auseinandergehen. Die Diskussion entzündet sich an der Verwendung des Begriffs „Ehe“, weil hier die Ungleichbehandlung mit der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft am augen- bzw. ohrenscheinlichsten ist. So sehr ich die Entscheidung für die Ehe für alle politisch begrüße, frage ich mich, ob eine Verfassungsänderung nicht der passendere – und rechtlich zwingende – Weg gewesen wäre. Es wird versucht, eine Verfassungsänderung als nicht notwendig zu rechtfertigen, weil infolge eines Verfassungswandels die gleichgeschlechtliche Ehe sowieso erfasst sei bzw. die Öffnung der Ehe für alle auf einfachgesetzlicher Ebene zulässig sei.
Wandel des verfassungsrechtliche Ehebegriffs?
Der Begriff der Ehe in Art. 6 I GG wird herkömmlich verstanden als „die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft […], begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates […]“. Einige, etwa Mathias Hong, versuchen zu begründen, dass der Begriff der Ehe von vornherein nicht auf den auf Lebenszeit geschlossene Bund zwischen Mann und Frau begrenzt ist, weil der Parlamentarische Rat explizit nur „wilde“ Ehen ausschließen wollte. Dies überzeugt nicht vollständig, wir wissen nämlich nicht, was der Verfassungsgeber entschieden hätte, wenn er darüber nachgedacht hätte. Gemessen an der damaligen Einstellung gegenüber Homosexuellen liegt es näher, dass er sich dagegen entschieden hätte.
Andere versuchen eine Öffnung des „Ehe“-begriffs in Art. 6 I GG über einen Verfassungswandel zu konstruieren. Unter diesen Stichwort werden Verfassungsänderungen ohne formelle Änderung des Verfassungstextes diskutiert, nämlich wenn es durch die Wandlung gesellschaftlicher und politischer Anschauungen zu einer inhaltlichen Verschiebung der ursprünglich in einem anderen Sinne verwendeten Worte kommt, sodass sich die Aussage der Verfassung materiell ändert, ohne sich äußerlich zu manifestieren. Die Verfassung erwiese sich damit nicht als blind gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten siebzig Jahre, sondern trüge der der gesellschaftlichen Dynamik durch ihre Entwicklungsoffenheit Rechnung. Einhellig bejaht wird ein solcher Verfassungswandel für die „Familie“. Art. 6 I GG schützt heute nicht nur die traditionelle Mutter-Vater-Kind-Konstellation, sondern auch alleinerziehende (Groß-)Eltern und Patchworkfamilien. In einer Zeit, in der drei Viertel der Bevölkerung die Ehe für alle befürworten und Hunderttausende am Christopher Street Day die Straßen säumen, könnte die Zeit für einen Verfassungswandel zugunsten der gleichgeschlechtlichen Ehe gekommen sein. Jedoch liegt die Entscheidung darüber, ob eine gesellschaftliche Veränderung für einen Verfassungswandel ausreicht, in der Hand des Bundesverfassungsgericht – und dieses hat einem Verfassungswandel in dieser Frage 1993, 2002 und zuletzt 2014 eine klare Absage erteilt.
Verfassungswandel durch den Gesetzgeber?
Die einfachgesetzliche Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe durch § 1353 I 1 BGB selbst genügt nicht für eine konkludente Verfassungsänderung. Zwar kommt der politischen Auffassung des Gesetzgebers eine wichtige Rolle zu, wenn es um die Beurteilung geht, ob ein Verfassungswandel vorliegt. Denn das Parlament ist das von der Verfassung primär zur Rechtssetzung berufene Organ. Allerdings darf die Figur des Verfassungswandels nicht dazu benutzt werden, die strengen Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung zu umgehen. Ein verfassungsmäßiges Ehe-für-alle-Gesetz setzt daher voraus, dass der Verfassungswandel bereits stattgefunden hat und nicht erst durch das Gesetz selbst erzeugt wird. Ansonsten umgeht der Gesetzgeber seine Bindung an das höherrangige Recht. Ein und dasselbe Gesetz zugleich als Begründung und als zulässige Folge des Verfassungswandels heranzuziehen, halte ich daher für nicht zulässig.
§ 1353 I 1 BGB als Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs?
Das BVerfG betont, dass die Verfassung das Institut der Ehe nicht abstrakt gewährleistet, „sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht“. Die Ehe ist nicht en détail im Grundgesetz beschrieben, sondern darf (und muss) durch den Gesetzgeber näher ausgeformt werden. Dieses Prinzip lässt sich auch an anderen Stellen des GG finden, etwa beim Eigentum, dem Vereinsrecht oder dem Parteienrecht. Bei der Ausgestaltung ist der Gesetzgeber nicht frei, sondern muss sich im verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen halten. Anders könnte die Verfassung, die als höherrangiges Recht den einfachen Gesetzgeber beschränken und einhegen soll, ihrer Funktion nicht gerecht werden. Was für Art. 14 I GG gilt, gilt auch für Art. 6 I GG: „der Gesetzgeber [muss] bei der Ausformung der Ehe die wesentlichen Strukturprinzipien beachten“. Dazu gehört nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Ehe „die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau“ ist.
Unterscheidung zwischen einem verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Ehebegriff?
Einen Ausweg scheint Christoph Möllers anzubieten. Er plädiert für eine Differenzierung zwischen einem verfassungsrechtlichen und einem einfachgesetzlichen Ehebegriff. Der verfassungsrechtliche entspräche dem des Bundesverfassungsgerichts, der einfachgesetzliche § 1353 I 1 BGB. Dafür spricht, dass es auch an anderen Stellen verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Begriffe gibt, die voneinander abweichen. Beispielsweise wird der Versammlungsbegriff in Art. 8 GG teilweise weiter (z.B. nichtöffentlich) oder enger (z.B. friedlich) verstanden als der einfachgesetzliche.
Problematisch sind jedoch Möllers Schlussfolgerungen: Er ist der Ansicht, dass zwischen der Verfassung und der einfachgesetzlichen Ebene gewisse Wechselwirkungen bestehen, die in beide Richtungen gehen. Die Verfassung beeinflusse die Auslegung des einfachen Rechts, der einfache Gesetzgeber präge aber auch die Verfassung. Letztere Aussage erscheint zunächst unlogisch, denn das höherrangige Recht soll dem Zugriff des Gesetzgebers schließlich entzogen sein. Dennoch greifen Gerichte bei der Auslegung des höherrangigen Verfassungsrechts immer wieder auf Gesetzesrecht zurück. Dies wird selten klar und geschieht eher im Verborgenen. Zuletzt prominent geführt wurde die Diskussion, inwieweit die Verfassung „von unten“ interpretiert werden darf, anlässlich des Mangold-Urteil des EuGH, wo der EuGH zur Auslegung eines Grundrechts auf eine Richtlinie zurückgegriffen hatte. Letztlich ist es gleichgültig, ob vom Gesetzgeber als „Erstinterpreten der Verfassung“ oder von einer „gesetzeskonformen Auslegung der Verfassung“ gesprochen wird: Solange die Verfassung keine Wertentscheidung enthält, spricht nichts dagegen, das einfache Recht zur Auslegung heranzuziehen. Dies wird der demokratischen Legitimation der Volksvertreter eher gerecht als acht RichterInnen, die sich im stillen Kämmerlein überlegen, wie die Gesellschaft in diesem Punkt aussehen sollte. Wenn die Verfassung – und sei es in Form der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung – eine Wertentscheidung enthält, dann muss der Gesetzgeber diese respektieren. Das wird oft verkannt, wenn in der aktuellen Diskussion vom Vorrang des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation gesprochen wird.
An die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gebunden ist aber nur der einfache Gesetzgeber – der verfassungsändernde Gesetzgeber kann sich jederzeit darüber hinwegsetzen. Die unterschiedlichen Voraussetzungen für den Erlass eines einfachen bzw. eines verfassungsändernden Gesetzes unterstreichen, dass nicht durch die Hintertür des Verfassungswandels oder der Verfassungsinterpretation einfache Gesetze mit einem der Verfassung widersprechenden Inhalt beschlossen werden dürfen (Verbot der Verfassungsdurchbrechung). Wenn die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehegatten ein wesentliches Strukturprinzip der Ehe darstellt, dann muss dieses bei der Ausformung der Ehe beachtet werden. Für eine anderslautende Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs ist daher kein Raum.
Und nun?
Wie das Bundesverfassungsgericht letztendlich entscheidet – wenn es überhaupt in zulässiger Weise angerufen wird – ist offen. Angesichts seiner bisher klaren Haltung ist es naheliegend, dass das Gericht an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält, die einfachgesetzliche Öffnung der Ehe für alle für verfassungswidrig erklärt und die Politik zugleich an die Möglichkeit einer formellen Verfassungsänderung erinnert. Denkbar erscheint indes auch, dass das Gericht im Sinne der Normativität des Faktischen gewandelten Anschauungen in der Bevölkerung doch Rechnung trägt und nunmehr von einem Verfassungswandel ausgeht. Wünschenswert ist eine Verfassungsänderung, die für Klarheit sorgt. Ob dafür im Bundestag die erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande kommt, ist allerdings fraglich. Solange Karlsruhe keine gegenteilige Entscheidung trifft, gilt einstweilen die (einfach-)gesetzgeberische Vorstellung, dass gleichgeschlechtliche Eheschließungen/Eheumwandlungen möglich sind. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch!