Schwerpunkt „Recht und Klimawandel“ des Jungen Forums der Österreichischen Juristenkommission und des ClimLaw: Graz
von MARKUS SCHARLER
Ein heikles, aber größtenteils (noch) unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung gebliebenes Thema sind Absiedlungen, die wegen klimawandelbedingter Gefahrenlagen stattfinden (müssen). So gibt es weltweit bereits Fälle, etwa in den USA, aber auch in unmittelbarer geografischer Nähe, nämlich in der Schweiz. Nicht zuletzt werden auch im österreichischen Donauraum Absiedlungen – derzeit (noch) auf freiwilliger Basis – durchgeführt. Insofern soll der Beitrag nachfolgend darauf eingehen, welche Rolle die Schutzpflichten bei Absiedlungen einzunehmen vermögen.
Naturwissenschaftliche Grundlagen
Die Auswirkungen des Klimawandels zeigen sich auch in Österreich folgenreicher denn je und führen zu wiederkehrenden Naturkatastrophen in immer kürzeren Intervallen. Nach dem derzeitigen Wissensstand wird es im 21. Jahrhundert in Österreich sehr wahrscheinlich deutlich mehr Temperaturextreme geben. Dabei bergen insbesondere sintflutartige Regenfälle sowie verheerende Unwetter besonderes Zerstörungspotential. Österreich wurde in den letzten Jahren bereits mehrmals Zeuge gravierender Hochwasser. So wurden bereits (und werden nach wie vor) Absiedlungen als Folge der verheerenden Hochwasserereignisse 2002 und 2013 im Eferdinger Becken (Niederösterreich) – freilich noch auf Basis freiwilliger, privatrechtlicher Förderverträge – vorgenommen. Überdies geht man davon aus, dass es aufgrund des auftauenden Permafrosts (überwiegend evoziert durch den Klimawandel) zu gehäuften und intensiveren Berg- bzw. Felsstürzen kommen wird.
Staatliche Pflicht?
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob überhaupt und inwiefern dem Staat die Verantwortung auferlegt ist, raumbezogene Anpassungsstrategien an den Klimawandel, wie z.B. Absiedlungen, vorzunehmen. Absiedlungen werden in diesem Kontext als staatlich gewolltes und dauerhaftes Aufgeben von Wohnraum bzw. Wohnsitz von Individuen (oder Gruppen) in einem bestimmten Gebiet zum Schutz vor klimawandelbedingten Gefahren verstanden. Obzwar auf internationaler und nationaler Ebene bereits, wie im Teaser gezeigt, Absiedlungsfälle unterschiedlicher Intensität aufzufinden sind, kann allein daraus nicht gefolgert werden, dass dem Staat eine rechtliche Verpflichtung dergestalt auferlegt wäre, Menschen aufgrund des Klimawandels umzusiedeln. Auch aus volkswirtschaftlichen oder individuell auf den Einzelfall bezogenen Kostenüberlegungen besteht rein rechtlich betrachtet keine Pflicht zur Vornahme von Absiedlungen. Ebenso wenig vermögen (umwelt-)rechtliche Prinzipien allein, seien es das Vorsorge- oder das Verursacherprinzip, die staatliche Verantwortung solcherart zu konkretisieren. Wenngleich all diese Argumente auch (rechts-)politisch und faktisch Gewichtiges in sich tragen, so kann daraus zusammenfassend keine Pflicht des Staates zur Anwendung derart eingriffsintensiver Maßnahmen begründet werden. Nunmehr lässt sich die Tatsache steigender Naturkatastrophen im alpinen Raum aber ebenso wenig leugnen wie die daraus resultierende steigende Gefahr für menschliches Leben. Diesem Umstand hat der Staat allerdings in irgendeiner Form zu begegnen. Freilich steht hierbei die Frage im Raum, inwieweit der Staat dieser Problematik überhaupt entgegentreten muss und wie er dies tatsächlich zu tun hat. Insofern ist nachfolgend zu erörtern, welchen Beitrag die grundrechtlichen Gewährleistungspflichten und insbesondere die staatlichen Schutzpflichten dabei einnehmen können.
Grundrechtliche Schutzpflichten als mögliche Antwort
Nicht nur die zuletzt virulent gewordenen Klimaklagen gegen Staaten stützen sich häufig auf die staatliche Verantwortung im Hinblick auf den Klimawandel und zeigen das Potential dieses aus den Grundrechten gewonnenen Substrats auf. Das grundsätzliche Bestehen derartiger Schutzpflichten wird heute nicht mehr bestritten; in Streit steht freilich der Umfang und die Reichweite dieser staatlichen Verantwortung. Keineswegs klar ist nämlich, „wie“ genau der Staat zu schützen hat. Es soll daher der Versuch unternommen werden, abzuklären, inwieweit der Staat Ab- bzw. Umsiedlungen vorzunehmen hat.
Der stärkste Anknüpfungspunkt für Schutzpflichten findet sich in den Grundrechtsgarantien der EMRK, die in Österreich im Verfassungsrang stehen. Für Absiedlungen werden dabei insbesondere das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), die Eigentumsfreiheit (Art. 1 1. ZP-EMRK) sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und hierbei im Speziellen das Recht auf Achtung der Wohnung (Art. 8 EMRK) relevant sein.
So hat der EGMR in der Rs. Budayeva das Bestehen von Schutzpflichten bei Naturgefahren (in diesem Fall eine Schlammlawine) angenommen, ohne dabei eine Zurechnung Dritter zu fordern. Der Gerichtshof erkannte eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht in Bezug auf Art. 2 EMRK. Dies deshalb, da nötige Schutzmaßnahmen unterlassen wurden. Es bestand nämlich weder ein Vorwarnsystem noch ein hinreichender Rechtsrahmen in der Hinsicht, dass die Raumordnungspolitik auf die bekannten Gefahren Bezug genommen hätte oder sonstige Schutzvorkehrungen auf gesetzlicher Ebene getroffen wurden.
In Zusammenschau mit weiteren Entscheidungen des EGMR (Rs. Öneryildiz und Kolyadenko) ist in Bezug auf Katastrophen festzuhalten, dass dem Staat, was die Mittel zur Gewährleistung des Schutzes anlangt, ein beachtlicher Spielraum verbleibt. Eingeschränkt wird dieser beachtliche Handlungsspielraum jedenfalls durch das Erfordernis des praktischen Nutzens, den der EGMR immer wieder hervorzuheben bemüht ist. Damit ist gemeint, dass die Mittel und Instrumente jedenfalls wirksam zum Schutz des menschlichen Lebens, der Wohnung und des Eigentums beitragen können müssen. Das dem Staat zur Verfügung stehende Spektrum der die Schutzpflichten erfüllenden Maßnahmen ist also ein breites.
Schutz ja, aber zu welchem Preis?
Ist nun aber der effektivste Schutz zu jedem Preis zu gewährleisten? Dem Staat darf nämlich nicht Unmögliches oder Unverhältnismäßiges abverlangt werden. Dies ist freilich vage und daher am jeweiligen Einzelfall zu messen. Im Zuge der Verhältnismäßigkeitsprüfung werden zudem sämtliche Umstände der entsprechenden Situation in die Waagschale geworfen. So müssen ein komplexer Sachverhalt oder das Ausmaß der Bedrohung bzw. die Anzahl der bedrohten Rechtsgüter mitbeachtet werden. Genauso werden kollidierende Grundrechtspositionen in die Abwägung miteinfließen müssen. Sohin wird wohl eher ein bestmöglicher Schutz zu fordern und nur dort eine konkrete Maßnahme (also die Absiedlung) vorzunehmen sein, wo dies die einzig verbleibende Möglichkeit darstellt.
Fazit
Zusammenfassend ist es meines Erachtens ratsam, einer Kombination aus möglichst vielen, jedoch eingriffsarmen Maßnahmen zunächst den Vorzug gegenüber einzelnen, besonders schwerwiegenden Maßnahmen, wie es die Absiedlung ist, zu geben. Dabei wird der ultima-ratio-Charakter einer Absiedlung in zweierlei Hinsicht evident. Zum einen stellt sie das letzte ergreifbare Mittel in einem Gesamtkatalog von Maßnahmen dar und zum anderen ergibt sich innerhalb eines potenziellen Absiedlungsregimes der Vorrang weniger eingriffsintensiver (privatwirtschaftlicher) Absiedlungsmaßnahmen vor gravierenden (hoheitlichen) Instrumenten.
Zitiervorschlag: Markus Scharler, Absiedlung als raumbezogene Anpassungsmaßnahme an den Klimawandel?, JuWissBlog Nr. 90/2020 v. 18.06.2020, https://www.juwiss.de/90-2020/.
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